Digital Games: A Love Story. Zum Verhältnis von Literatur und Computerspiel.

Am 26. Juli 2012 erschien die 33. Ausgabe der »BELLA triste«, einer feinen Zeitschrift für junge Literatur. Und ich war in der Rubrik »LUX« mit einem schönen Essay zur schwierigen Ehe von Literatur und Computerspiel mit dabei. Nach gebührendem zeitlichen Abstand gibt’s den ganzen Text nun auch online.

BELLA triste #33
BELLA triste #33
Zeitschrift für junge Literatur
ISSN 1618-1727
Preis (D) 5,35 €

Es beginnt – wie so vieles – mit einer Liebesgeschichte. William und Patricia Crowther lernen sich irgendwann in den 1960ern am MIT kennen, heiraten und bekommen zwei Kinder. Will programmiert Routing-Protokolle für das ARPANET (Advanced Research Projects Agency Network), den militärisch-akademischen Vorläufer des Internets. Pat erforscht Höhlensysteme und entdeckt 1972 auf einer Expedition die Verbindung zwischen der Mammoth Cave und dem Flint Ridge Cave System in Kentucky. 1973 kommt es zur Scheidung. Pat heiratet erneut; ihren Expeditionsleiter. Will verarbeitet die Trennung auf nerdige Weise: Er kombiniert die Routing-Probleme des ARPANET mit den nostalgischen Erinnerungen an die gemeinsamen Mammoth Cave-Ausflüge und einer Prise Dungeons & Dragons. Es ist – wortwörtlich – die ›Ankunft‹ des ersten Text-Adventures: ADVENT (1976). Der Computer flirtet mit Literatur.

»This is a path winding through a dimly lit forest.«

Durch die Knotenpunkte eines Computer-Netzwerkes zu navigieren, ist der Wegfindung in einem Höhlensystem recht ähnlich. Es gibt große Räume – Knotenpunkte oder ›Nodes‹ – und es gibt verbindende Gänge – Verknüpfungen oder ›Links‹. Die aus Fantasy-Literatur und Pen&Paper-Rollenspielen entliehenen Dungeons früher Text-Adventures wie Zork (1980) bilden eine geeignete Metapher für die Logik von Netzsystemen. Zwischen Nodes zu navigieren und dann Datensätze mit Hilfe kryptischer Befehle und alphanumerischer Adressen zu verlinken, ist kein anspruchsloses Unterfangen. Aber ›go north‹ und dann ›use key with door‹ geht jedem, der halbwegs alphabetisiert ist, leicht von der Hand auf die Tastatur. Literatur dient hier, so stellt der Medienwissenschaftler Claus Pias fest, der Produktion von »Übergangswahrscheinlichkeit« [1]. Die Beschreibung eines Höhlensystems und die Queste eines Helden legt sich wie eine Folie über die abstrakten Datenbankstrukturen des Computers und ermöglicht Orientierung. Je bekannter, je zwingender das literarische Klischee, desto besser. Aus Höhlenwänden ist kein Entkommen und seit Rotkäppchen verlässt niemand mehr den sicheren Pfad. Literatur ist Interface. Literatur ist Kontrollinstanz. Zweckehe.

Zork

Infocom und andere Entwickler produzieren – inspiriert durch ADVENT – einen stetigen Fluss erfolgreicher Text-Adventures. Und je häufiger die Spieler, ohne es zu merken, durch mathematische Graphensysteme rauschen und Datensätze miteinander verlinken, desto mehr verinnerlichen sie die logischen Strukturen des Computers. Die Rolle von Text als Interface wird unbedeutender. Redundanz und Kontingenz müssen nicht mehr um jeden Preis verhindert werden; die Spieler finden sich auch so zurecht. Selbst gestandene Autoren erkennen jetzt das literarische Potential digitaler Spiele. Ray Bradbury ist direkt an der Entwicklung von Fahrenheit 451 (1986), dem Computerspiel-Sequel seines gleichnamigen Science-Fiction-Romans, beteiligt. Und dem Text-Adventure The Hitchhiker’s Guide to the Galaxy (1984) merkt man den unmittelbaren Einfluss von Douglas Adams jederzeit an. Schon ein dem Spiel unbekanntes Wort hat – in Kombination mit Löchern im Raum-Zeit-Kontinuum und kriegsgeilen Außerirdischen – absurde Konsequenzen: »You have destroyed most of a small galaxy. Please pick your words with greater care.« Auch im Hitchhiker’s Guide geht es darum, die korrekte Konfiguration von Wörtern zu finden, um reibungslos zum Zielknoten eines Netzwerkes zu gelangen. Aber noch viel mehr muss nun der skurrile Humor eines Autors durchdrungen werden. Besonders wenn es darum geht, unbeschadet durch einen Türrahmen zu kommen: »You miss the doorway by a good eighteen inches.« Doch selbst wenn Arthur Dent die richtigen Worte und seine Aspirin rechtzeitig findet, die Welt der interactive fiction muss ab Mitte der 1980er unaufhaltsam einem eleganteren Interface zum Computer Platz machen. Text ist einfach zu »mostly harmless«.

Narratologie vs. Ludologie

›Show, don‘t tell‹ ist das Erfolgsrezept im Point-and-Click-Grafik-Adventure. Literatur in The Secret of Monkey Island (1991) & Co. ist beschränkt auf Dialog beziehungsweise Monolog und dient nun hauptsächlich zwei Funktionen: Erstens gibt sie Hinweise auf die Lösung von Rätseln und zweitens belohnt sie das erfolgreiche Lösen von Rätseln. Klassische Adventure-Autoren, wie Ron Gilbert und Tim Schäfer, sind für ihren Humor berühmt, der wunderbar mit dem Rätsel-Design harmoniert. Ein gelungener Gag (»How appropriate. You fight like a cow!«) ist Grund genug, um die Variablen der Spielwelt zielführend zu konfigurieren. Text als Mittel zur Charakterentwicklung – jenseits der gröbsten Klischees –, so wie es Jane Jensen erfolgreich mit Gabriel Knight (1993) durchgezogen hat, bleibt die Ausnahme oder fällt bei der Zielgruppe durch. Ob Guybrush Threepwood, Dr. Henry Jones oder Larry Laffer, die Spielfigur ist am Ende eine bloße Verlängerung des Cursors. Und ein Stereotyp bietet mehr Freiraum für die Spielerin als ein scharfes Charakterprofil. Der Cybertext-Autor Markku Eskelinen bringt es polemisch auf den Punkt: »If I throw a ball at you I don’t expect you to drop it and wait until it starts telling stories.« Damit beginnt der vorerst größte Konflikt in den internationalen Game Studies: Narratologie vs. Ludologie. FIGHT!

Während in den späten 1980ern und den frühen 1990ern die blassen, introvertierten Kinder in ihren Kellerzimmern von karibischen Inseln und diesen schicken Lederjacken träumen, hängen die coolen Kids in der Arcade ab und spielen ›richtige‹ Spiele. Der einzige Text, den hier alle früher oder später zu lesen bekommen, ist »Game Over«. Wen interessiert es schon, dass es in dem Arcade-Klassiker Donkey Kong (1981) um einen Gorilla geht, der Pauline, die Freundin von Jumpman (erst später: Mario) entführt hat? Computerspiele, soweit die Tautologie, sind Spiele und keine Geschichten. Wie schon beim Text-Adventure ist Literatur ein Gimmick, das bestenfalls einen redundanten Rahmen für Spiel schafft, aber nie selbst Spiel ist. So auch die Argumentation der Ludologen: Computerspiele sind Regel- und Spielsysteme, die keine Narration brauchen, um zu funktionieren. Besonders Puzzlespiele wie Tetris (1984) zeigen das auf zeitlos abstrakt-schöne Weise. Im Gegensatz zu früheren Medienformen – wie der Kulturwissenschaftler Alexander R. Galloway feststellt – müssen Computerspiele ›aktiviert‹ werden: »[W]hat used to be the act of reading is now the act of doing, or just ›the act‹.« Die Narratologie – bequem im literaturwissenschaftlichen Muff eingemummelt – kontert träge mit Jorge Luis Borges und behauptet nicht ganz zu unrecht das Computerspiele doch in etwa wie Der Garten der Pfade, die sich verzweigen (1944) sind. Zu oft spielt dabei jedoch das Missverständnis eine Rolle, bei Programmiersprache handle es sich um die Sprache des Computers. Dabei ist sie eigentlich nur eine Handreichung, eine Metapher für all jene, die zu dumm sind, die ephemeren Abläufe der central processing unit (kurz: CPU) direkt zu begreifen. Computerspiele sind in ihrem Kern elektronisch beschleunigte Zahlenmystik, kein unkompilierter Quelltext, den man bei einem Glas Wein im Ohrensessel genießen kann. Der Dichter Charles Bernstein fasst das kompakt zusammen: »If a typewriter could talk, it would have very little to say […]. But these microchips really blow you away.« [2]

PAC-TXT

Mittlerweile beweisen die Game Studies mehr common sense und machen Kompromisse: Spiele brauchen nicht zwingend eine Geschichte, aber sie können trotzdem eine erzählen, mit Text und dem ganzen Drum und Dran. Literarizität ist als kulturelle Form im Computerspiel etabliert. Niemand käme mehr auf die Idee, sie als Inhalt des Mediums zu streichen – auch wenn die Botschaft des Mediums eine andere ist. Unverbesserliche Spielverderber weisen dennoch auf die Absurdität dieser ungleichen Beziehung hin. Von besonderer konzeptioneller Schönheit ist die Umsetzung von Pac-Man (1980) als Text-Adventure: »You awaken in a large complex, slightly disoriented. Glowing dots hover mouth level near you in every direction.« Pac-Txt (2007) zeigt mit brachialer Einfachheit, was passiert, wenn man den Akt des Spielens in konfigurierbaren Text verwandelt: >eat dot (»You have eaten the glowing dot!«), >forward (»You have moved.«), >eat dot (»You have eaten another glowing dot!«), >forward (»Umph! You walked into a wall.«). Nein, eine (Text-)Datenbank kann die instantanen Prozesse der CPU nicht ersetzen. In den letzten 30 Jahren hat sich jedoch viel getan und die amüsierte Polemik zerbricht an der spielerischen Realität. Spätestens seit Tomb Raider (1996) – so der Medienwissenschaftler Mathias Mertens – wird ebenfalls gespielt, »um zusehen zu können, um die Datenbank zu mobilisieren.« Es gibt kaum ein aktuelles Spiel, das ohne epische Geschichte, worldbuilding, transmedia storytelling und die Dialoge professioneller Autorinnen auskommt. Man hat sich aneinander gewöhnt.

Waffenstillstand

Ein wenig trügt die Waffenruhe zwischen Literatur und Spiel, denn Erzählung findet meist erst dann statt, wenn die Gewehre schweigen und die blutbeschmierten Schwerter wieder in ihren Scheiden stecken. ›Zwischensequenz-Wegdrücker‹ und ›Text-Weiterklicker‹ mögen holprige Begriffe sein, sind aber auch etablierte Charakterisierungen eines verbreiteten Spielertypus. Wenn Computerspiele große Literatur sein wollen und etwas von Bedeutung erzählen möchten, in Ordnung, aber das soll dann bitte nicht stören! Professionelle Spiele-Autorinnen, wie Rhianna Pratchett (ja, die Tochter von Terry), werden zwar PR-wirksam vorgeführt, scheinen es sich aber zur Aufgabe gemacht zu haben, in ihren Spielen nicht aufzufallen. Die Story von Mirror‘s Edge (2008) passt locker auf einen Bierdeckel. Austoben können sich Autoren erst im ›Buch zum Spiel‹, das – vom StarCraft- bis zum Splinter Cell-Franchise – die Science-Fiction- und Fantasy-Regale der Bahnhofsbuchhandlung verstopft. Aber selbst das brillanteste Stück Literatur taugt am Ende nichts, wenn das Computerspiel dahinter nicht gut ist. Die eigentliche Kunst ist, Literatur und Computerspiel so zusammenzubringen, dass am Ende beide Seiten davon profitieren, dass die Narration mehr ist als eine Rechtfertigung, um Nazis zu töten, dass das Spiel mehr ist als ein notwendiges Übel, um seine Geschichte zu erzählen.

Tatsächlich ist vielen Spielen aus dem Mainstream die Symbiose bereits gelungen. Und sie ist um so besser gelungen, je enger Autor und Game-Designer zusammenarbeiten beziehungsweise zusammenfallen. Nicht jede Spielmechanik eignet sich für jede Geschichte. Und nicht alle narrativen Strategien oder Perspektiven eignen sich für ein Computerspiel. Das Rollenspiel-Genre hat es relativ gut getroffen und kann viele Positivbeispiele vorweisen – vor allem wegen der offensichtlichen Nähe zum Pen&Paper-Rollenspiel. So hat das Genre-Meisterwerk Planescape: Torment (1999) nicht nur etwa 1,5 Millionen Textzeilen zu bieten, sondern vollführt auch das Kunststück, diesen Literaturwust in der Datenbank sinnvoll und untrennbar mit der Spielmechanik zu verweben. Das Schicksal des unsterblichen Helden, der nach jedem Tod in eine Welt wiedergeboren wird, in der er bereits in unzähligen Leben Spuren hinterlassen hat, ist eine wunderschöne Analogie auf Computerspiele. Wie in einem Buch liest die Spielerin, mit jedem Schritt in der weiträumigen Spielwelt, über die Vergangenheit ihrer Spielfigur. Das Ego-Shooter-Genre ist schon eher ein Sorgenkind. In den meisten Fällen reicht es, narrativ festzulegen, wer die Bösen sind, damit der Spaß beginnen kann. Die Call of Duty-Serie ballert mit dieser Strategie Hollywood-Blockbuster regelmäßig von ihrem Thron. Deus Ex (2000) erzählt seine Geschichte hingegen größtenteils abseits filmischer Zwischensequenzen über in der Spielwelt verteilte Textdokumente. Zeitungsausschnitte berichten von sozialen Umbrüchen, Briefe geben Zeugnis elterlicher Liebe, Kochrezepte laden zum Backen von chinesischen Brötchen ein und Auszüge aus Gilbert Keith Chestertons The Man Who Was Thursday (1907) werfen Parallelen zur zentralen Verschwörungstheorie des Spiels auf. Aus den Literaturfragmenten setzt sich nach und nach ein dichtes narratives Spieluniversum zusammen. Und am Ende weiß niemand mehr so genau, auf wen man eigentlich noch ohne schlechtes Gewissen ballern kann. Das Action-Rollenspiel Skyrim (2011) treibt das literarische worldbuilding soweit, dass über 300 Bücher mit insgesamt mehreren Tausend Seiten in der gleichnamigen Spielwelt zu finden sind. Die Vorteile liegen auf der Hand: Wer Narration will, kann sich nahezu unbegrenzt mit Spiel-interner Recherche beschäftigen. Wer keinen Bock hat zu lesen, jagt dem nächsten Troll ungestört einen Pfeil in die Kniescheibe. Die perfekte Partnerschaft.

It just ain’t your story

Der Kompromiss stinkt: Bislang ist da ›nur‹ Computerspiel mit Literatur, aber kein Spielen am Computer mit Literarizität. Der Datenbank ist es gleichgültig, womit sie gefüllt wird. Wo es jedoch darum geht, ganz konkret mit Text zu spielen und eine Poetik der CPU zu schaffen, bleibt es bei witzigen Spielereien ohne Tiefgang. The Typing of the Dead (2000) lässt uns durch das schnelle Tippen harmloser Wörter nicht nur Zombies abknallen, sondern bringt uns auch Schreiben nach dem Zehnfingersystem bei. Scribblenauts (2009) ist ein Spiel mit Semiotik und zaubert vom Spieler geschriebene Substantive – zur Lösung diverser Rätsel – in die Spielwelt. Das macht alles Spaß, die Erfüllung einer Autorin ist es hingegen kaum. Dabei beginnen die Kinder, die mit Computerspielen alphabetisiert wurden, gerade erst erwachsen zu werden. Sie verfügen erstmals über die nötige »gaming literacy« [3] – wie der Spieldesigner Eric Zimmerman es nennt –, to game literacy. Leider mag die Industrie weder ludische Experimente noch finanzielles Risiko. Die traurige Erfahrung zeigt, dass sich die meisten Spieler immer noch mit einem einfachen Tapetenwechsel in der Datenbank und einer höheren Zahl am Ende des Spieltitels zufrieden geben. Wer diese Geschichte nicht mag, muss sich eine eigene schreiben.

Today I Die

Sowohl intuitive Werkzeuge als auch offene Vertriebswege stehen mittlerweile fast frei zur Verfügung. Das Ergebnis ist eine florierende, internationale independent gaming-Szene, die weitaus seltener vor Experimenten zurückschreckt. So hat beispielsweise Daniel Benmergui mit Today I Die (2009) ein kurzweiliges Puzzle-Gedicht geschaffen. Dear Esther (2012) von thechineseroom hebt – für einen atmosphärischen Hybriden aus Inselexpedition und Briefroman – gleich eine vollständige, wunderschön gestaltete Hebrideninsel [sic!] aus dem virtuellen Meer. Viele weitere gelungene Beispiele – Braid (2008), The Path (2009), Bastion (2011), Superbrothers: Sword & Sworcery EP (2011), etc. – ließen sich aufzählen. Mit zunehmenden Erfolg und steigender Relevanz, sind allerdings auch die Egos der Szene gewachsen und produzieren zunehmend ebenso massentauglichen wie prätentiösen Kunstkack. Der Vorwurf des arroganten Hipstertums trifft das independent gaming tief ins Mark. Mit ihrem Buch Rise of the Videogame Zinesters (2012) ruft die Game-Designerin Anna Anthropy daher dazu auf, wieder kleine, persönliche Wegwerf-Spiele zu produzieren. Mit Dys4ia (2012), dem spielbaren Erfahrungsbericht ihrer Hormonbehandlung, legt die Transgender-Frau gleich ein eindrückliches Beispiel dafür vor. Zwar entbehrt sie selbst nicht einer unangenehmen Arroganz gegenüber dem ›bösen‹ Mainstream, hat für Laien aber brauchbare Hinweise parat. Besonders Autoren profitieren von ausgereiften, kostenlosen Programmen, die es jedem ermöglichen, literarische Computerspiele zu produzieren. Richtet sich Inform in erster Linie an Freunde der interactive fiction – inklusive einer ›natürlichen‹ Programmiersprache –, lassen sich mit Ren‘Py komplexere visual novels ›schreiben‹. Neues Spielzeug, dass zum Experimentieren in einer eingeschliffenen Beziehung einlädt.

Als im Januar 2007 eine bishōjo-Skizze mit hübschen, aber körperlich behinderten Manga-Mädchen bei 4chan auftaucht, hätte wohl niemand damit gerechnet, dass daraus eine vollwertige, mit Ren‘Py erstellte visual novel entsteht. Kein großer Publisher würde ein solch heißes Eisen – romantische Verwicklungen an einer Sonderschule für Behinderte – auch nur mit der Kneifzange anfassen. Aber Teile der 4chan-Community haben sich in kürzester Zeit unter dem Namen Four Leaf Studios dem Projekt angenommen. Die Fallhöhe war groß, denn das bishōjo game-Genre ist eher Fetisch-fixiert und die Teilnehmer des imageboard sind für ihren pubertären Anarcho-Humor berüchtigt [4]. Doch Katawa Shoujo (2012) – japanisch für ›Krüppelmädchen‹ – ist eine sensible Geschichte über die Normalität von Behinderungen geworden. Mal von den fremdbeschämenden Sex-Szenen abgesehen, stört eigentlich nur der Mangel an Spiel. Ab und zu gilt es eine binäre Entscheidung zu treffen, aber davon abgesehen kommt das beständige Klick, Klick, Klick, Klick, Klick, Klick, Klick der Maus eher dem Umblättern von Buchseiten nahe als dem prozeduralen Charakter eines Computerspiels. Den Autoren der Dating-Romanze hat es nicht an Fleiß und Ambition gefehlt, aber gewiss an Talent und dem Verständnis der besonderen poetischen Ausdrucksmittel des Mediums.

Katawa Shoujo

Alexander R. Galloway nennt es den »allegorithm« und der Game-Designer Ian Bogost spricht von »procedural rhetoric« [5]; beide Konzepte laufen darauf hinaus, mit Hilfe algorithmischer Prozesse, überzeugende Aussagen zu treffen. Wer bei einer Partie Monopoly (1935) schon einmal das Gefühl hatte, die Immobilienwirtschaft ist ein moralisch verkommener Geschäftszweig, weiß was gemeint ist. Die Ur-Version The Landlord´s Game (1904) von Elizabeth Magie Phillips sollte mittels ›rhetorischer‹ Spielregen eben genau das zum Ausdruck bringen. Wer als Autor also ein Computerspiel machen will, muss sich mit einer neuen Form digitaler Rhetorik vertraut machen und darüber nachdenken, wie sich literarische Themen und narrative Zusammenhänge durch die Prozesse des Computers repräsentieren lassen. Christine Love ist eine visual novel-Autorin, der genau das gelingt. Ihre Liebesgeschichten [sic!] handeln von der einen Sache, von der Computerspiele immer noch am besten erzählen können: Dem Computer.

Analogue: A Hate Story

Christine Loves übersichtliches, mit Ren‘Py produziertes Werk liest sich schon in den Titeln wie ein Abgesang auf totes Holz und überholte Medienkontexte. Sowohl don’t take it personally, babe, it just ain’t your story (2011) wie auch Analogue: A Hate Story (2012) erzählen von der Zukunft menschlicher Beziehungen – beeinflusst durch Computertechnologie. Brillant ist dabei, wie Love nicht versucht, mit dem Medium Computerspiel etwas zu erzählen, was sich damit nicht gut erzählen lässt: Menschliche Beziehungen. Statt nach literarischen Interface-Metaphern für den Computer zu suchen, macht sie den Computer zur Interface-Metapher für Literatur. In don’t take it personally, babe trifft die Spielerin als Literaturlehrer bedeutsame, binäre Dialog-Entscheidungen gegenüber ihren Schülern. Dabei wird die klassische visual novel stets von einem Facebook-artigen sozialen Netzwerk überlagert, dass der Spielerin parallel Einblick in die privaten Textnachrichten ihrer Schützlinge gibt. Die prozedurale Rhetorik geht auf: Nutzt sie die Meta-Ebene der Statusmeldungen, um die Schüler entsprechend der eigenen Vorstellungen zu manipulieren oder respektiert sie ihre Privatsphäre? Die Schlusspointe des Spiels trifft schließlich überzeugende Aussagen zu sozialer Kommunikation im Zeitalter von Facebook & Co. Christine Love gelingt es, dass die Spieler ihre Erzählung – anders als es der Titel von ihnen verlangt – für einen Moment persönlich nehmen: Sie erwischt sie beim digitalen Voyeurismus.

Digital: A Love Story

Ihr bisheriges Meisterwerk ist Christine jedoch mit Digital: A Love Story (2010) gelungen. Das mediennostalgische Text-Adventure führt den Spieler zurück an den Anfang. Über ein der Amiga Workbench nachempfundenes Betriebssystem navigiert er durch die Knoten des Bulletin Board System (kurz: BBS) und stattet selbst dem ARPANET einen Kurzbesuch ab. Er durchforstet William Gibson- und Star Trek-Fanboards, liest Textnachrichten, wählt lange Telefonnummern und knackt Codewörter; diesmal ohne die redundante Erzählung eines Dungeons. Der Computer wird zur Literatur. Routing-Probleme werden als Routing-Probleme verpackt, die Literatur – im Sinne von Claus Pias – gestrichen. Der Spieler braucht keine literarische »Übergangswahrscheinlichkeit«, um der spannenden Verschwörungs- und Liebesgeschichte rund um die Anfänge des Internets, Computerviren und künstlichen Intelligenzen auf die Schliche zu kommen. Manchmal muss eine unproduktive Beziehung enden, um produktiv zu wirken. Will und Pat Crowthers Scheidung brachte Literatur und Computerspiel im Text-Adventure ADVENT zusammen. Die Scheidung von Text-Adventure und Literatur bringt nun neue Formen der Literarizität hervor: Digital: A Love Story. Man kann nicht ›für‹ ein Computerspiel schreiben, man muss ein Spiel mit dem Computer schreiben. Wer das als Autor missachtet, produziert entweder schlechte Texte oder schlechte digitale Spiele. Auch die Liebesgeschichte von Computerspiel und Literatur ist also am Ende eine tragische: »And now we finally have this sorrowful peace;Machines now boot, network traffic flows across.But remember who caused the onslaught to cease:those two impossible lovers suffering ultimate loss.«

Anmerkungen

[1] Wer mehr über die Zusammenhänge von mathematischen Graphen, Erzähltheorie und Adventures erfahren möchte, dem sei der ganze Aufsatz »Adventures Erzählen Graphen« von Claus Pias empfohlen. Zu finden im Reader Neue Medien (2007, transcript, 398-419) herausgegeben von Karin Bruns und Ramón Reichert.

[2] Als Medienwissenschaftler ist es ein bisschen beschämend zuzugeben, aber einer der besten Essays, die je zum Computerspiel geschrieben wurden, stammt von einem Poeten und Literaturwissenschaftler, der obendrein kaum je gespielt hat. Charles Bersteins »Play It Again, Pac-Man« ist zu lesen in The Medium of the Video Game (2001, University of Texas Press, 155-168) herausgegeben von Mark J. P. Wolf.

[3] Mehr über das heiß diskutierte Konzept der »Gaming Literacy« findet sich in dem Essay »Game Design as a Model for Literacy in the Twenty-first Century« von Eric Zimmerman. Der Text ist erschienen im The Video Game Theory Reader 2 (2009, Routledge, 23-31) herausgegeben von Bernard Perron und Mark J. P. Wolf.

[4] »Never gonna give you up, never gonna let you down, never gonna run around and desert you…« You have been rick rolled!

[5] Eine ausführliche Definition und Einsatzmöglichkeiten prozeduraler Rhetorik sind zu entdecken in Ian Bogosts Buch Persuasive Games – The Expressive Power of Videogames (2007, The MIT Press).

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