Seit dem vergangenem Dezember 2013 ist das WASD-Magazin #4 (und ein tolles Quartett der Videospiel-Skandale) auf dem Markt und sollte unbedingt käuflich erworben werden. Weil: Zukunft! Als kleiner Trost dafür, dass ich in der aktuellen Ausgabe „nur“ mit einem Review von »Gone Home« vertreten bin, nun an dieser Stelle ein Text von mir aus der skandalösen WASD #3. Er handelt von richtig schlechten Adventures, einem glücklichen Sisyphus und dem berüchtigten Gummiband-Effekt als Garant für gesellschaftliche Teilhabe. Ein Skandal, wenn man da nicht reinliest:
Ein Ja, ein Nein, eine gerade Linie, ein Ziel…
von Christian Huberts
Computerspiele sind Utopien, ideale Nicht-Orte in denen Fairness, Ordnung und Überfluss vorherrschen. Der eigentliche Skandal ist und bleibt die Realität.
Wenn ich mit Bürokratie in Berührung komme, muss ich an The Secret of Monkey Island denken. Nicht, weil das Adventure inhaltlich viel damit zu tun hätte, sondern weil das Genre immer schon Bürokratie war. In Multiple-Choice-Dialogen und Item-Rätseln füllen wir Formulare aus und transportieren (Daten-)Päckchen von Adresse A nach Adresse B, wie der Medienwissenschaftler Claus Pias anmerkt. Der Unterschied zur Realität: Auf der Affeninsel funktioniert die Bürokratie einwandfrei. Keine verschlampten Anträge, keine verzögerten Antworten, keine falsch berechneten Bescheide, keine Korruption, keine Schikane und keine tyrannischen Sachbearbeiter. The Secret of Monkey Island ist das Ideal funktionierender, digitaler Bürokratie. Die analoge Realität hingegen – da gebe ich der Game Designerin Jane McGonigal recht – ist ziemlich kaputt und ineffizient. Und das in einem Ausmaß, dass man es nur als großen Skandal bezeichnen kann. Doch diesen Skandal mit ein bisschen Gamification erträglicher machen zu wollen – wie in McGonigals Buch Reality is Broken vorgeschlagen – greift zu kurz.
Ich bin nicht so naiv, eine digitale Revolution des Meatspace zu fordern oder gar die Außerkraftsetzung physikalischer Grundgesetze. Mir geht es allein um gesellschaftliche und kulturelle Strukturen, die schon spielerischen Charakter haben. Für den Kulturhistoriker Johan Huizinga gehört das Spiel zu den entscheidenden Kulturfaktoren und der Mensch ist in erster Linie ein spielender Mensch, ein »Homo Ludens«. Der Kulturwissenschaftler McKenzie Wark radikalisiert diesen Gedanken, proklamiert den gesellschaftlichen Raum als allumfassenden »gamespace« und den Spieler als zentrale Figur einer neuen kritischen Theorie. Wir wissen, unter welchen Bedingungen uns Computerspiele Spaß machen und können unsere kulturelle Umwelt als Spiel verstehen – oft als schlechtes, unfaires oder ineffizientes. Warum also nicht das Computerspiel als ideales Regelsystem betrachten, die gesellschaftlichen Spielregeln umgestalten und dem Skandal der Realität auf den Leib rücken?
In seinem Vortrag auf der re:publica-Konferenz 2012 macht der Brettspiel-Entwickler Casasola Merkle konkrete Vorschläge: Das Problem unserer Marktwirtschaft ist, dass vor allem jene strukturell bevorteilt werden, die bereits den Großteil der ökonomischen Ressourcen besitzen. Wir kennen das unter anderem aus dem Brettspiel Monopoly: Der Spieler mit dem größten Immobilienmonopol sackt langfristig die dicksten Mieten ein und plündert seine Mitspieler aus. Die Realität offenbart das mehr als deutlich an dem zunehmenden Aufgehen der Schere zwischen armen und reichen Gesellschaftsschichten. Im Spiel hat das zur Konsequenz, dass nur ein Spieler Spaß hat und der Rest keinen Grund sieht, noch weiterzuspielen bzw. sich an die Regeln zu halten. In der Realität bedeutet es einen Verlust von Selbstwirksamkeit und zunehmende Ablehnung gesellschaftlicher Regeln und Werte. Sozialbetrug, Gewalt und Egoismus sind eben auch Symptome unfairer Bedingungen. Brettspiele lösen dieses Problem zum Beispiel dadurch, dass zu Beginn einer Runde oder beim »über Los gehen« neue Ressourcen verteilt werden – einfach so. Kein Mitspieler wird endgültig abgehängt und die Chance einer überraschenden Wendung bleibt bestehen. In der Realität kursieren ähnliche Theorien, wie etwa die negative Einkommenssteuer, das Bürgergeld oder ein bedingungsloses Grundeinkommen, um benachteiligten Menschen eine befriedigende und selbstbestimmte Teilhabe am Spiel der Gesellschaft zu ermöglichen. Das hat nichts mit dem realitätsfernen Herbeizaubern neuer Ressourcen zu tun, sondern schlicht mit der Veränderung jener (Spiel-)Regeln, unter denen bestehende Ressourcen zum größten Glück aller Mitspieler bzw. -menschen verteilt werden (könnten). Und wie beim Gummiband-Effekt von Super Mario Kart, würden nicht nur die Ärmsten von einer solchen Regeloptimierung profitieren, sondern auch die Spitzenplätze freuen sich über aktivere Konkurrenz und ein spannenderes Rennen!
Man muss beim Redesign der Marktwirtschaft nicht halt machen. Es ist ein weiterer Skandal, dass unsere Schulen immer noch nach den Maßgaben der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts aufgebaut sind, wie der Bildungsexperte Sir Ken Robinson betont. Sie bereiten ihre Schüler frontal, spezialisiert und nach Stechuhr in Lernfabriken auf die Leistungsgesellschaft vor und klassifizieren sie numerisch nach Alter und ihrer unpersönlichen Eignung für die Arbeitswelt. An der New Yorker Quest to Learn-Schule von Game Designerin Katie Salen gibt es hingegen keine Schulnoten oder abgetrennte Fächer und Klassen. Gelernt wird in spielerischen, komplexen Zusammenhängen und wer sich anstrengt und fleißig ist, kann einen Level aufsteigen, wie in einem Rollenspiel. Aber vermasselt man eine Queste, wird man dafür nicht durch eine schlechte Note auf dem Zeugnis – mitunter auch recht langfristig – auf dem Bildungs- oder Karriereweg ausgebremst. Der Pfad zum Level-Up dauert nur ein wenig länger, aber statt Sanktion herrscht Motivation. Eine Lektion, die sich auch das Transferleistungssystem in Deutschland hinter die Ohren schreiben könnte. Wer einmal in seinem Leben BAföG oder Arbeitslosengeld beantragt hat, weiß wie ein richtig beschissenes Adventure aussehen kann. Leidensdruck statt positive Anreize und surreale Regelkurzschlüsse statt elegante Algorithmen. Und jeder Universität würde ein Coop- und Matchmaking-System gut zu Gesicht stehen statt mit Credit Pointification egozentrische Karriereakademiker heranzubilden. Insgesamt könnte der akademische Elfenbeinturm ein wenig mehr wie Farmville organisiert sein und gegenseitige Unterstützung zum Königsweg für eine Karriere machen bzw. zumindest die vorherrschende Pay-to-Win-Mechanik für alle sichtbar machen. Diese Beispiele ziehen keine Ebene der Gamification ein, sondern passen die grundlegenden Bedingungsstrukturen von Erfolg, Bildung und Motivation an die Bedürfnisse des Homo Ludens an. In der Utopie des Computerspiels liegen die optimierten Spielregeln längst bereit. Aber für eine Veränderung braucht es Wahrnehmung davon, dass etwas schief läuft.
Wenn ein Computerspiel durch seine Nähe zur Realität zum Skandal wird, ist das blanker Zynismus. Das Pennergame von der Farbflut Entertainment GmbH in Hamburg mag nicht die seriösesten Töne anstimmen und muss viel Kritik dafür einstecken, aber im Gegensatz zur Realität handelt es sich um eine Spielwelt, in der Obdachlose tatsächlich gesellschaftlich aufsteigen können – wenn auch nur mit Prügeleien und dem Sammeln von Pfandflaschen. In einem gamespace, der von Diskriminierung und Marginalisierung geprägt ist, bildet das die Ausnahme. Noch drastischere Töne schlägt darum der satirische PR-Gau »Initiative Sauberes Hamburg« vom Pennergame-Entwickler an. Die fingierte politische Initiative, die Obdachlose aus der Hansestadt vertreiben wollte, ist zu einem ernsthaften Skandal geworden, konnte jedoch an den tatsächlichen politischen Bemühungen, die Innenstädte zu »säubern«, nichts ändern. Das Pennergame und seine Entwickler sind keine Paradebeispiele für Moral und Anstand, aber doch eine deutliche Erinnerung daran, dass Obdachlosen durchlässige Strukturen, in denen Aufstieg in und Teilhabe an der Gesellschaft möglich sind, nachhaltig verwehrt bleiben. Der Zynismus des Computerspiels macht den weitaus größeren Zynismus der Realität sichtbar. Ein Phänomen, das der Philosoph Slavoj Žižek auch in Kriegsshootern der Marke Call of Duty bestätigt sieht. Wir entkommen der »Realität eines entpersönlichten, in einen anonymen technologischen Apparat verwandelten Krieges« nur noch durch die »Phantasie eines direkten Kontakts mit einem Feind, den wir mit eigenen Händen töten«. Zum Skandal wird das Kriegsspiel erst, wenn die Fantasie des Computerspiels der Realität des vermeintlich »sauberen Krieges« angepasst wird, wie in der berüchtigten »Death From Above«-Mission von Modern Warfare. Eigentlich müsste also nach jedem Computerspiel-Skandal die Aufmerksamkeit sofort zurück auf die skandalöse Realität gerichtet werden.
Noch fehlt es an einem allgemeinen Bewusstsein für die Veränderbarkeit dieser gesellschaftlichen Strukturen. Die theoretische Kritik des Gamers ist nur der Anfang, es braucht Hacker, Modder und Maker, die der Realität in der Praxis zu Leibe rücken. Hacker untergraben die Hegemonie von Patenten, Verwertungsrecht und künstlicher Verknappung – auch wenn praktikable Modelle der Gegenfinanzierung freier Informationen noch ausstehen. Modder wie Mike Mika verdrehen vermeintliche Normalität und lassen ihre Töchter in Donkey Kong den gefangenen Mario von Freundin Pauline retten. Maker umgehen die Beschränkungen industrieller Massenproduktion, um die Produkte der Zukunft in unabhängigen Fabrikationslaboren – kurz: FabLabs – zu produzieren. Dass bestehende Regel- und Kommunikationsstrukturen davon bedroht sind, zeigt sich an den Antikörpern, die das etablierte Gesellschaftssystem den vermeintlichen Spielverderbern entgegenstellt. DRM, DLC, LSR, an allen Fronten werden fluide Ressourcen künstlich ausgebremst, verknappt und verteuert. Politische Bewegungen wie die Piratenpartei bekommen deutlich zu spüren, was passiert, wenn man eingeschliffene Regeln der Politik-, Partei- und Presselandschaft spielerisch in Frage stellt – besonders wenn Hybris und mangelnde Erfahrung hinzukommen. »Das ganze Ziel des Spiels ist […], die Regeln so festzulegen, dass möglichst viele dabei möglichst gut wegkommen«, schreibt Marina Weisband, die ehemalige Politische Geschäftsführerin der Piraten, in ihrem Buch Wir nennen es Politik. Doch die bisherigen Gewinner des Gesellschaftsspiels wehren sich gegen eine Veränderung der Regeln, die ihren persönlichen Erfolg bedrohen könnte. Maßeinheiten für Lebenszufriedenheit, – wie der Happy Planet Index – geben jedoch zu bedenken: In einem schlechten Spiel gibt es langfristig nur Verlierer.
»Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen«, hat der Philosoph Albert Camus einmal geschrieben. Der Indie-Entwickler Pippin Barr hat das in seinem Let’s Play: Ancient Greek Punishment passend als Computerspiel-Miniatur umgesetzt. Auch wenn ein Sieg nicht möglich ist, so ist das antike Steinkullern doch kein schlechtes Spiel. Auch Super Mario ist dazu verdammt auf ewig der entführten Prinzessin Peach hinterher zu hüpfen – ein Klempner als existenzieller Held, wie ihn der Journalist Scott Rosenberg porträtiert. Das Glück liegt nicht in der Anhäufung von Ressourcen und Erfolgen, sondern in der selbstgenügsamen, existenziellen Einbindung in ein klares Regelsystem. Auch das ist etwas, das uns Computerspiele mit großer Schlichtheit vor Augen führen. Es muss nicht darum gehen, alle Menschen zu Gewinnern zu machen. Genügen würde es, wenn jeder mitspielen könnte, niemand strukturell ausgeschlossen wäre, jeder sich an klaren Zielen und Feedbacks abarbeiten könnte. Nein, Bürokratie ist nicht schlecht – auch nicht die Marktwirtschaft, Schulen, Universitäten, oder die Politik –, es bleibt nur der Skandal, dass sie in der Realität nicht so gut funktioniert, wie auf Monkey Island. Noch nicht.
1 Kommentar
[…] Und wo wir gerade schon bei Christian Schiffer waren: Ich habe hier im Blog zwar schon über die aktuelle Ausgabe #3 des Game-Bookzines WASD geschrieben, aber man kann nicht oft genug erwähnen, was für eine tolle Sache da gerade passiert. Wer sich selbst überzeugen möchte, kann sich die umfangreiche Leseprobe anschauen (und/oder gleich zu meinem Textbeitrag springen) [Edit: Leider nicht mehr aktiv, aber hier ist eine Alternative]: […]