Zeit, die [I]:

In den meisten Computerspielen ist Zeit eine Illusion. Sie wird nur behauptet, ist aber kein Element der Spielmechanik. Der Spieler handelt in Zeitlosigkeit. Implementiert man Zeit in ein Computerspiel, hat das tiefgreifende Konsequenzen für das Verhalten des Spielers.

Das Leben in einem Bunker ist nicht schlecht. Kein Hunger, kein Durst und kein Grund zur Eile. Eine intakte Zeitkapsel voller behüteter, friedlicher Schafe. Ich bin eines von ihnen. Oder besser, ich war eines von ihnen. Nun ist etwas kaputt in diesem perfekten kleinen System. Die Anlage zur Wasseraufbereitung ist defekt und die Vorräte reichen noch genau 150 Tage. Ich wurde ausgewählt, um das nötige Ersatzteil zu besorgen. Bestimmt werden die Nachbarn aushelfen können. In der Zeitlosigkeit des Bunkers hat man gelernt hilfsbereit zu sein. Doch außerhalb eines Bunkers ticken die Uhren anders. Vault 15 wurde komplett geplündert, alle Einwohner getötet. Eine Schwachstelle im Mikrokosmos des Bunkers und die Außenwelt bricht ein. Gier, Verzweiflung und Mordlust suchen sich ihren Weg durch den kleinsten Riss in der Unabhängigkeit. Und auch die Zeit fließt zurück in den zeitlosen Untergrund. Noch 123 Tage. Selbst wenn die Sonne im Verborgenen kreist, die Gegenwart des Todes füllt allmählich die Räume aus Stahlbeton. Grund mich zu beeilen. Dennoch bleibe ich auf meiner Reise durch die verbrannte Welt immer wieder stehen, um Gutes zu tun. Ich helfe Bauern mit ihrem Ungezieferproblem und ziehe marodierende Banden zur Rechenschaft. Ich vergesse die Zeit, habe sie eigentlich nie richtig gekannt. Noch 87 Tage. Und mit jedem Quest, jeder Wanderung und jeder Lohnarbeit rückt der Tod von Vault 13 näher. Die Pseudo-Sonnenuntergänge anderer Rollenspiele haben mich erfolgreich getäuscht. Noch 69 Tage. All die Tage in Albion, Morrowind und auf Gaia waren in Wirklichkeit immer wieder der eine gleiche Tag. Nur die Illusion von Zeit in totaler Zeitlosigkeit. Nie ein Grund zur Eile. Immer genug Zeit, die Probleme ganzer Welten zu lösen. Nicht erst seit FALLOUT lebe ich in einem Bunker. In Computerspielen, die mit dicken Mauern aus Code, Außenwelt und Zeit von sich ausschließen. Und nun habe ich ein wirkliches Problem. Diesmal tickt die Uhr tatsächlich, ist keine Attrappe mehr. Ich habe keine einzige Minute, keine Stunde, keinen Tag mehr übrig. Ich kann nicht die ganze Welt retten. Nur noch mich und Vault 13. Und plötzlich verstehe ich, warum die Welt von FALLOUT so ein verkommener Ort ist, so ein verkommener Ort sein muss. Wo jede noch so kleine Zeiteinheit über Leben und Tod entscheidet, ist kein Platz mehr für Selbstlosigkeit. Jetzt stehe ich am selben Punkt, wie all die Diebe, Mörder, Sklavenhändler und Betrüger von FALLOUT. Ich habe nicht die Zeit, um über Moral nachzudenken. Noch 37 Tage. Ich morde, ich stehle, ich verrate. Mit dem ergaunerten Geld schicke ich eine Karawane mit Wasservorräten zur Vault 13. Ein kleiner Aufschub. Und ich töte und betrüge weiter, solange bis ich das Ersatzteil endlich in den blutverschmierten Händen halte. Vault 13 ist gerettet. Und wenn ich nach dem letzten Quest endlich in meine Heimat zurückkehre, wird man mir sagen, dass ich nicht mehr in der Vault 13 erwünscht bin. Die Zeit hat mich verändert. Ich lebe nicht mehr in einem Bunker.

Schauplatz des Rollenspiels FALLOUT ist keine bunte Fantasywelt, sondern ein Amerika nach dem Atomkrieg. Mit forderndem Gameplay und zynischem Humor gehört FALLOUT zu den Klassikern des Genres. Weitere Tipps findest du hier.

(Ursprünglich erschienen auf subpool.de)

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