WASD – Bookazine für Gameskultur #9

WASD #9: Abenteuer in den Tropen

Urlaub an den schönsten Allgemeinplätzen der Spielwelt.

Klischee, Trope, Allgemeinplatz. Es gibt viele Bezeichnungen für den narrativen Kitt, der so manche Geschichte im Computerspiel vor dem Totalzusammenbruch bewahrt. Die unkomplizierten Story-Pflaster schaffen Sinn, wo sonst Nonsens wäre. Und sie liefern schnelle Antworten auf Fragen, denen man besser nicht so genau nachstellt. Christian Huberts hat sich auf die Suche nach den überstrapaziertesten Vertretern dieser Gattung gemacht. Ein Text aus dem WASD – Bookazine für Gameskultur Nr. 9.

Amnesie

Worum geht’s?

Schlag auf den Kopf. Pistolenkugel im Hirn. Das Falsche getrunken. Gedächtnis leer. Wer bin ich? Wo komme ich her? Wenn das Spiel solche Fragen stellt, mit einer Schnitzeljagd nach Erinnerungen beantwortet und wohlmöglich auch noch Amnesia heißt, hat man es mit einer narrativ sehr bequemen Form des Gedächtnisverlusts zu tun.

Warum wird’s benutzt?

Die Protagonisten in einem Film oder Buch wissen über sich und ihre Umwelt meist gut bescheid. Die Zuschauer wissen hingegen nur, was ihnen davon mit der Zeit offenbart wird. So einleuchtend wie spannend. In Games geht diese perspektivische Trennung meist verloren. Spielende und Protagonisten müssten den selben Kenntnisstand teilen, tun sie aber selten. Paradox. Zumindest bis eine Amnesie elegant für gleiches Erinnerungsvermögen und eine gemeinsame Motivation sorgt.

Wer macht’s am besten?

Auch der Namenlose aus Planescape: Torment muss sein Gedächtnis mühsam aus Erzählungen rekonstruieren. Die Puzzleteile wollen nur einfach nicht zusammenpassen. Die Welt erinnert sich in diversen Variationen an ihn. So bleibt nur der Blick in die Zukunft, getreu der zentralen Fragestellung: „What can change the nature of a man?“

Rache

Worum geht’s?

Niko Bellics Kameraden, Ryo Hazukis Vater, Corvo Attanos Kaiserin, Max Paynes Familie. Alle ermordet. Da bleibt eigentlich nur: Rache! Kaum ein Storyklischee ist so abgegessen, wie die Vendetta an den Mördern geliebter Menschen. Und wie hießen die eigentlich nochmal? Egal. Rache ist ein Gericht, das man am besten direkt auf den Kompost serviert, besonders seit es kalt geworden ist.

Warum wird’s benutzt?

Gewalt ist in den meisten Geschichten nur dann ein Tabu, wenn es keinen guten Grund für sie gibt. Jene Menschen, die ohne guten Grund gewalttätig handeln, sind die Bösen. Die Guten hingegen haben Gründe. Und Rache gegenüber Menschen, die ohne guten Grund gewalttätig handeln, ist auf diese Weise – wie bequem – immer gut begründet. Eine selbsterfüllende Rechtfertigung, mit der man mal alternativ- und fraglos die Sau rauslassen kann, weil die Anderen ja angefangen haben.

Wer macht’s am besten?

Spec Ops: The Line beginnt als Rettungsmission, entwickelt sich zur Rachemission und endet als Suchmission nach einem Grund für die Rachemissionen. Drückt man auch noch weiter auf den Abzug, wenn es schon gar keinen Sinn mehr ergibt?

Gut und Böse

Worum geht’s?

Die Welt – mit all ihren Grauzonen und komplexen Verstrickungen – ist total nervig. Weniger stressig ist es, alles in möglichst wenige und einfache Kategorien einzuteilen. Hat jemand Hörner, schießt Blitze und erobert gerne andere Länder: Böse. Gut sind dagegen weiße Gewänder, eine leuchtende Aura und der penible Hang zur Rechtschaffenheit. Gut und Böse – das ist die Killerapplikation unter den Ideologien.

Warum wird’s benutzt?

Auch die digitale Welt hat es nicht so mit Grauzonen. An oder Aus, 1 oder 0, True oder False – damit lässt sich schon irgendwie Komplexität simulieren. Aber am Ende des Tages eignet sich so ein Bit besser zur Unterscheidung von Gut und Böse als für die Frage, ob man Pokémon auch essen sollte. Und würde uns Peter Molyneux nicht mehr sagen, was schwarz und weiß ist, wir wüssten ja garnicht mehr, was man noch guten Gewissens töten kann.

Wer macht’s am besten?

Traditionsgemäß ist das Rollenspiel-Genre besonders anfällig für die Gut-Böse-Dichotomie. Die überhypte Meme-Schleuder Undertale fällt da angenehm aus dem Rahmen. Totenschädel sind eigentlich ganz nett und Blümchen fiese Arschlöcher. Manchmal aber auch wieder andersherum. Bei so viel Unsicherheit, tötet man besser niemanden.

Allmächtiger Antagonist

Worum geht’s?

Zugegeben, es gibt ihn auch viel in anderen Medien, den omnipotenten Bösewicht, der seine Opfer zum Spielball sadistischer Rube-Goldberg-Maschinen macht. Aber während der Jigsaw Killer den verdienten Ruhestand genießt, feiern seine Gaming-Kollegen dauerhaft Hochkonjunktur. Der Joker macht das Arkham Asylum zur Geisterbahn, in Rapture wird höflich um Morde gebeten und GLaDOS testet Todesfallen für die Wissenschaft. Es gibt kein Entkommen vor ihnen.

Warum wird’s benutzt?

Handlungsfreiheit in Computerspielen ist eine Illusion. Aber pssst, die meisten Spielenden wissen das nicht. Und sie werden richtig sauer, wenn sie von faulen Designern mit einer linearen Abfolge von standardisierten Testsituationen abgespeist werden. Es sei denn natürlich, es gibt einen Sündenbock. Die Notwendigkeit, die User in ihrem Handlungsspielraum einschränken zu müssen, ist eine narrative Steilvorlage für Superschurken. Ich war’s nicht, die durchgedrehte KI war’s!

Wer macht’s am besten?

Am besten zeigt man, wie bescheuert etwas ist, wenn man es übertreibt. Und The Stanley Parable übertreibt es ernsthaft. Selten hat sich ein Erzähler so sehr als Game-Designer entlarvt und noch seltener mussten sich Spielende  so viel Spott für ihre Fluchtversuche gefallen lassen.

Gläserne Gefängnisse

Worum geht’s?

Liberty City ist eine Insel. Der Bundesstaat San Andreas kurioserweise auch. Tomb Raider, Far Cry 3 und The Witness handeln auf Inseln. Und wo Spielwelten nicht von unüberwindbaren Wassermassen umgeben sind, da droht der kalte Weltraum, ragen Bergmassive empor oder wurden Dungeons in massives Gestein gehauen. Wehe dem Spiel, dass unseren Fortschritt durch einen Lattenzaun stoppen möchte oder – Blasphemie! – durch eine unsichtbare Wand.

Warum wird’s benutzt?

Selbst die offenste Welt braucht Enden. Sogar die prozeduralen Landschaften von Minecraft stoßen in den Far Lands an technische Grenzen. Spielwelten sind hermetische Gefängnisse. Und die Herausforderung von Spielentwicklern besteht darin, die Gefängnismauern erzählerisch möglichst nachvollziehbar zu machen. Inseln gehen immer. Raumstationen auch. Aber – und das kann man nicht oft genug sagen – unsichtbare Wände gehen mal garnicht.

Wer macht’s am besten?

The Path ist eine Rotkäppchen-Adaption. Wie im Märchen, herrscht eine klare Ansage: Alles abseits vom Pfad ist Tabu. Hält man sich nicht daran, verirrt man sich prompt in einem Wald, dessen Enden – wie bei Asteroids – miteinander kurzgeschlossen sind. Die Welt als Donut.

Der Auserwählte

Worum geht’s?

Auf jeden Spieler und jede Spielerin kommt mindestens eine mystische Prophezeiung. Nur Du kannst die Welt retten! Nur Du kannst das Böse besiegen! Nur Du kannst 89 Cent für diesen verzauberten Klappspaten der Leichtgläubigkeit +1 bezahlen! Seinen Konsumenten in unzähligen Game-Narrativen immer wieder zu versichern, wie toll, besonders und einzigartig sie sind, gehört zum guten Ton und spart das Autoren-Budget.

Warum wird’s benutzt?

Computerspiele sind ein narzisstisches Medium. Nichts läuft ohne die Spielenden ab, alles dreht sich um sie. In der heiligen Schrift des Quellcodes sind sie fast zwangsläufig Auserwählte. Selbst Max Mustermann ist auf spielmechanischer Ebene jemand ganz Besonderes. Man müsste die Gamer schon aus dem Scheinwerferlicht schubsen und etwa zu passiven Beobachtern machen. Aber sind Normalitäts-Simulatoren überhaupt noch richtige™ Spiele?

Wer macht’s am besten?

Wäre die Welt von The Talos Principle nicht schon von den Spuren der anderen Spielender übersät, man könnte der göttlichen Stimme vom Himmel fast abkaufen, dass man auserwählt ist. Doch bis zum letzten Puzzle, zerstören diverse philosophische Dialoge jede Illusion der Besonderheit. Besser: Don’t stop believin’!

Christian Huberts kann sich an fast alles erinnern, sinnt selten nach Rache und lebt nicht auf einer Insel. Nur auf seinem Blog www.schauanblog.de wimmelt es vor billigen Klischees.