WASD #4: Die Poetik des Raumes – 
Gone Home

Mit „Gone Home“ hat die Fullbright Company nicht weniger als einen modernen Klassiker geschaffen. In seinem Tagebuch gesteht WASD-Autor Christian Huberts seine Liebe für minimales Gameplay, narrative Architektur und Autostereogramme.

Der Zwischen|Welten-Sammelband ist – trotz massiver Verspätung – auf einem guten Weg und die fünfte Ausgabe des WASD-Bookzines nimmt ebenfalls kontinuierlich Form an – unter anderem mit einem reichhaltigen Artikel von mir zu prekären Lebenswelten in Computerspielen. Zur Überbrückung bis zum Release bzw. bis zum nächsten Zwischenstand gibt es hier mein Review zum atmosphärischen Indie-Meisterwerk »Gone Home« aus der WASD #4. Ein Text, wie ein heimeliger Dachboden:

Die Poetik des Raumes: 
Gone Home

von Christian Huberts

Mit „Gone Home“ hat die Fullbright Company nicht weniger als einen modernen Klassiker geschaffen. In seinem Tagebuch gesteht WASD-Autor Christian Huberts seine Liebe für minimales Gameplay, narrative Architektur und Autostereogramme.

15. August, 2013

Liebes Tagebuch,

es ist passiert, ich habe mich wieder verliebt! Es handelt sich wahrscheinlich um das wichtigste Spi… aber ich sollte vom Anfang beginnen! Wie Du ja weißt, lief es in letzter Zeit nicht ganz so gut mit den Anderen. Die sind langweilig und vorhersehbar geworden. Sind seit rund 40 Jahren auf der Welt und haben sich kaum verändert, von einem netten Gimmick hier oder einer hübschen Verpackung da mal abgesehen. Immer wollen sie nur, dass ich kämpfe, hierhin und dorthin laufe, oder irgendeinen Krempel miteinander kombiniere. Mal möglichst schnell und spektakulär und mal elend langsam und repetitiv. Überhaupt scheinen sie in erster Linie meine Zeit stehlen zu wollen. Nicht, dass es keinen Spaß mehr mit ihnen machen würde – ich weiß schon, welche Knöpfe ich drücken muss! – aber… ach… mich ödet es einfach an.

Aber jetzt ist Gone Home da und alles ist anders! Wo soll ich anfangen? Oder besser: wie? Vielleicht mit einem Zitat aus Gaston Bachelards Buch Poetik des Raumes, das ich an der Universität aufgeschnappt habe:

„Die echten Häuser der Erinnerung, die Häuser, zu denen unsere Träume uns wieder zurückführen, die Häuser, die reich sind an getreuen Traumgehalten, widerstreben jeder Beschreibung. Sie beschreiben hieße sie besuchen.“

Gone Home ist so ein Haus der Erinnerung, das man nur wirklich erfahren (und lieben!) kann, wenn man es besucht. Mich hat es sofort in seinen Bann gezogen. Sei es durch die liebevoll rekonstruierten Artefakte der 1990er oder die intime Familiengeschichte, die mir seine Räume erzählen. Es ist ein bisschen so, als hätte man BioShock und Co. von allen Altlasten und Störimpulsen befreit, um nur noch ein konzentriertes Stück narrativer Architektur zurückzulassen. Keine ewig gleichen Kämpfe, keine Geschicklichkeits- oder Kombinationstests und schon gar keine Sammelei. Einfach nur liebenswerte Schlichtheit!

16. August, 2013

Liebes Tagebuch, gestern war ich ein wenig schwärmerisch. Also noch mal etwas sachlicher. Statt in einer dystopischen Unterwasser- oder Himmelsstadt entführt mich Gone Home am 7. Juni 1995, nach einjähriger Europareise, in das Haus meiner Eltern und meiner kleinen Schwester Sam. Die Räume liegen noch im Chaos des erst kürzlich vollzogenen Umzugs und bis auf verstreute Notizen, Bilder und Dokumente gibt es keine Spur seiner Einwohner. Was in anderen Spielen nur die Belohnung für mehr oder weniger gelungenes Gameplay wäre, ist hier die ganze Erfahrung. Code- oder Item-Rätsel tauchen, wenn überhaupt, nur zum Pacing der Geschichte auf. Von Brief zu Brief, Prospekt zu Prospekt und Notiz zu Notiz erschließe ich mir in der Egoperspektive sowohl das elterliche Haus als auch das Coming-of-Age von Sam. Und ganz nebenbei noch alte und ganz aktuelle Familiengeheimnisse.

Es sind einfache Geschichten, die Gone Home erzählt. Keine dramaturgischen Knalleffekte oder narrativen Taschenspielertricks, sondern subtiles spatial storytelling – wie der Kulturwissenschaftler Henry Jenkins es nennt. Jeder Raum erzählt seine eigene Geschichte. Ein Vater, der die Wunden der Vergangenheit erfolglos als Alkoholiker und Autor von Pulp-Romanen verarbeitet. Eine Mutter mit steiler Karriere, die nach Auswegen aus der stagnierten Ehe sucht. Und eine kleine Schwester, die ihre Sexualität entdeckt. Keine Geschichten, die man besonders häufig in Computerspielen findet und darum umso kostbarer. Es wäre eine Verschwendung, würde man das Haus mit Gameplay vollmüllen!

18. August, 2013

Liebes Tagebuch,

mir geht die Poetik des Raumes nicht aus dem Kopf. Gaston Bachelard fordert, dass man Häuser selbst als etwas lebendiges betrachtet und analysiert. „Topo-Analyse“ nennt er das. Die Erinnerungen, die ihre Bewohner ihnen geben, verleihen den Häusern eine Seele. „Nur mit Hilfe des Raumes, nur innerhalb des Raumes finden wir die schönen Fossilien der Dauer, konkretisiert durch lange Aufenthalte.“ Jeder Gegenstand wird Teil eines Erinnerungsarchivs. Unangenehmes wird in den Keller, das Unterbewusstsein des Hauses, verdrängt. Der Dachboden hingegen wird zum Rückzugs- und Traumort, abseits vom erwachsenen Über-Ich. Gone Home versteht es perfekt, die Poetik seiner Architektur zu nutzen. Das alte, geerbte Haus ist zugleich Metapher für das Innenleben vergangener und neuer Bewohner. Und es ist ein Erinnerungsarchiv der 1990er. Ein Museum meiner Kindheit.

„Wenn im neuen Hause die Erinnerungen der alten Wohnungen wieder aufleben, reisen wir im Lande der unbeweglichen Kindheit, unbeweglich wie das Unvordenkliche. Wir erleben Fixierungen, und es sind Fixierungen des Glücks.“

Mag die Hauptstory von Gone Home eher bedrückend sein, ist die Rückkehr in die Ästhetik der 90er eine große Freude. Sei es die „Pulp Fiction“-Kinokarte in der Sofaritze, eine Movelist für Chun-Li aus Street Fighter II oder VHS-Kassetten mit „Akte X“-Episoden, alles wirft mich unweigerlich zurück in die verklärte Vergangenheit. Und selbst nach rund 20 Jahren funktioniert es noch: Das leichte, bewusste Schielen, um diese komischen Stereogramme zu entschlüsseln, die eine Weile lang – in Form von „Das Magische Auge“-Büchern – durch alle Kinderzimmer geisterten. Gone Home ist ein Spiel für Mittzwanziger (und aufwärts). Das Haus der Kindheit in das man zurückkehrt, selbst wenn man in einer kleinen Wohnung aufgewachsen ist und sich das Kinderzimmer mit dem großen Bruder teilen musste. Damit ist Gone Home was jedes gute Computerspiel sein sollte: Ein Rückzugsort, ein ungestörter Dachboden, auf dem sich Träumen und Spielen lässt!

„Speicher meiner Langeweile, wie oft habe ich mich nach dir zurückgesehnt, wenn das vielfältige Leben mich um den eigentlichen Keim aller Freiheit betrog.“

19. August, 2013

Arrrrgh,

diese verdammten Hardcore-Arschloch-Gamer! Stänkern im Steam-Forum und bei Metacritic wieder derbe rum. Gone Home sei zu teuer, zu kurz und überhaupt fehle es am so genanntem „Gameplay“. Urteil: Kein Spiel! Nicht Kaufen! Was für ein Quatsch. Als ob man sich schon je einmal einig über die Definition von Computerspielen gewesen wäre. Das Medium verändert sich mit seinen Machern und Benutzern. Stetig. Und ein zurückschrauben von banaler Mechanik ist das Beste, was dem Medium in jüngster Zeit passieren konnte. Freiräume werden so geschaffen, in denen sich endlich neue Spielerfahrungen ansiedeln können. Manchmal auch einfach etwas Langeweile. Vielleicht ist Gone Home auch deswegen so magisch, weil es diese Erfahrung der Ruhe und der Langeweile einer Kindheit ohne Call of Duty wieder zurückholt. „Das übermäßig Pittoreske eines Wohnraumes kann seine Intimität verdecken“. Gameplay ist nicht dazu da, alles auszufüllen. Nicht jeder Raum muss eine komplexe Abenteuermaschine sein. Gone Home zeigt, dass ein Haus manchmal einfach nur ein Haus zu sein braucht. Es wird Zeit, dass Computerspiele die Poetik ihre Räume wieder mit mehr Bedacht gestalten. Es wird Zeit, nach Hause zu kommen…