Gedankenspiele

Artikel aus der Gruft! Vor ein paar Jahren habe ich mich als freier Journalist bei einem sehr langlebigen, deutschen Fachmagazin für Videospiele versucht. Die Bezahlung war schlecht, aber die Möglichkeit ein paar neue Erfahrungen zu sammeln dann doch ganz gut. Eine dieser Erfahrungen war, dass man sich viele Stunden mit einem Artikel um die Ohren hauen kann, der dann allerdings doch nicht genommen, ergo auch nicht bezahlt wird. Der folgende Artikel ist genau so einer. Ich habe mir große Mühe gegeben, die wissenschaftliche Beschäftigung mit Videospielen für ein junges und eher theoriefeindliches Publikum interessant zu machen, aber dem Magazin war’s dann doch zu „abstrakt“. Naja, dann eben hier im Blog.

Nicht nur besorgte Politiker machen sich Gedanken über Videospiele. Auf der ganzen Welt strengen Wissenschaftler ihre grauen Zellen an, um herauszufinden, was es mit unserem Hobby auf sich hat.

Die Antwort auf die Frage „Was sind Videospiele?“ scheint offensichtlich. Doch jeder, der einmal Versucht eine Erklärung reif für das Lexikon zu liefern, wird schnell an seine Grenzen stoßen. Sind Videospiele all jene Dinge, in denen wir etwas auf einem Bildschirm steuern können? Ist ein einfaches DVD-Menü dann nicht auch ein Videospiel? Und was ist mit eigenwilligen Elektronikexperimenten wie dem Tamagotchi – schon ein Videospiel oder doch etwas Anderes? Noch scheint niemand eine genaue Antwort zu haben. Allerdings sind Videospiele auch noch ein sehr junges Medium. Die Theorie über unser Hobby steckt noch in den Kinderschuhen.

Jesper Juul
Auf Konferenzen wie dem „Clash of Realities“ in Köln stellen Forscher ihre Theorien vor. Hier erklärt Jesper Juul, warum Videospiele das emotionalste aller Medien sind.

Homo Ludens

Bevor wir herausfinden können, was Videospiele sind, müssen wir erstmal wissen, was ein Spiel ist. Antworten darauf hat der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga. Für ihn sind Spiele alle freien Handlungen, die „nicht so gemeint“ sind, außerhalb unseres Alltags stehen und keinen konkreten Nutzen erfüllen. Außerdem finden sie immer unter bestimmten Spielregeln statt und laufen innerhalb eines begrenzten Spielfelds und einer begrenzten Spielzeit ab. Huizinga geht sogar soweit zu vermuten, dass unsere ganze Kultur ursprünglich aus Spielen entstanden ist. Wir sind der Homo Ludens – der spielende Mensch. Das liefert uns ein weiteres gutes Argument für unser Hobby, aber die Ausgangsfrage beantwortet es noch nicht ganz.

Das Spiel mit dem Computer

Spacewar
Vor dem Computer-Koloss PDP-1 kann man schon Respekt haben. Läuft darauf ein Spiel wie „Spacewar!“, schwinden die Berührungsängste mit der komplizierten Technik.

Das wirklich Neue am Videospiel ist, dass wir es an einem Computer spielen. Auch eine Spielkonsole ist letzten Endes ein spezialisierter Rechner. Wenn wir dem Literaturwissenschaftler Charles Bernstein Glauben schenken, spielen wir aber nicht nur AM Computer – wir spielen DEN Computer. In ihrer Anfangszeit sind Rechenmaschinen komplizierte Technologie mit fehlender Benutzerfreundlichkeit. Videospiele bieten die Gelegenheit, Computer auch als Laie bedienen zu können, ohne einen Systemabsturz befürchten zu müssen. Eine Programmschleife mit den richtigen Daten füllen, dass können bis heute nur die Profis. Ein paar Treffer bei „Pong“ fallen hingegen selbst Computer-Neulingen leicht. Für den Rechner macht es – von der grafischen Darstellung der Berechnungen auf dem Monitor einmal abgesehen – keinen großen Unterschied. So wird der Computer im wahrsten Sinne des Wortes zum Kinderspiel. Jede neue Generation von (Lern-)Spielen, bringt uns so aktuelle Computertechnologie auf spielerische Art und Weise näher, denn unter den Pixeln und Polygonen spielen wir immer noch mit Nullen und Einsen.

Narratologie versus Ludologie

Mittlerweile sind Videospiele aber weit mehr als ein komfortables Lernprogramm für Rechenmaschinen. Besonders die Literatur- und die Filmwissenschaften sehen in Spielen eine erweiterte Form ihres Forschungsgebiets. Sie betrachten unser Hobby narratologisch, dass heißt, Videospiele sind für sie in erster Linie spielbare Geschichten. Die Literaturwissenschaftlerin Janet H. Murray sieht in ihnen sogar eine Weiterführung der Tradition des Barden, der seine Gesänge und Erzählungen „interaktiv“ an die Wünsche seines Publikums anpasst. Betrachtet man die epischen Textwüsten mancher Rollenspiele, scheint diese Ansicht mehr als plausibel. Doch die Ludologie – die allgemeine Spielwissenschaft – widerspricht, denn für sie ist unser Hobby im Kern eine Angelegenheit von komplexen Regelsystemen und Simulationen. Schließlich erwarten wir ja auch nicht von einem zugeworfenen Ball, dass er uns ein Geschichte erzählt, wie der Autor Markku Eskelinen sehr bissig argumentiert hat. Mittlerweile hat sich der Streit der Disziplinen weitgehend gelegt. Die Wahrheit, wie der Videospiel-Forscher Jasper Juul in seinem Buch „Half-Real“ beschreibt, liegt irgendwo zwischen beiden Ansätzen. Jedes Videospiel kann als Geschichte funktionieren, basiert aber auch stets auf spielerischen Regelsystemen.

Zork
Text versus Spiel: Während ein Text-Adventure wie „Zork“ einem Roman schon sehr ähnlich sieht…
Tetris
…beißen sich Narratologen auf der Suche nach der Geschichte von „Tetris“ die Zähne aus.

Ahnengeschichte

Taktisches Kriegs Spiel
Kriegsspiele im Wandel der Zeit: Während preußische Generäle ihre taktischen Manöver noch auf Holztischen planen…

Eine weitere mögliche Antwort unserer Frage, liegt in der Vergangenheit des Videospiels. Der Professor für Erkenntnistheorie Claus Pias räumt das Feld sogar von ganz hinten auf. Beginnt für uns die Videospiel-Geschichte üblicherweise mit „Spacewar“, „Pong“ und Co., geht Professor Pias noch ein Stück weiter zurück in die Vergangenheit. Denn selbst die allerersten digitalen Spiele sind nicht einfach so vom Himmel gefallen, sondern hatten analoge Vorgänger. Schon in der Experimentalpsychologie des 19. Jahrhunderts wurden elektronische Apparaturen benutzt, um die exakten Reaktionszeiten von Testprobanden zu messen. Prinzipiell das Selbe, was auch ein Shooter macht, wenn er uns Gegnerhorden vor die Flinte schickt. Das U.S. Militär prüfte hingegen während des ersten Weltkrieges die geistige Leistungsfähigkeit neuer Rekruten mit Labyrinth-Aufgaben auf Papier. Wer am schnellsten mit dem Bleistift am Ziel war, bekam eine „high score“ und damit auch einen anspruchsvolleren Posten. Wer an die Kriegsplanspiele der Generäle des 19. Jahrhunderts denkt, muss auch nicht lange überlegen, wo unsere heutigen Strategiespiele herkommen. Zinnfiguren wurden in der Zwischenzeit einfach durch Polygon-Soldaten ersetzt. Videospiele sind also im Prinzip gar nicht so neuartig, wie wir denken. Nur die Technik hinter den Reaktionstests, Geschicklichkeitsaufgaben und Kriegsspielen hat sich weiterentwickelt. Und natürlich steht heute weniger die Wissenschaft und der militärische Erfolg im Vordergrund, sondern der Spielspass und eine gut erzählte Geschichte.

RUSE
…verfügen moderne Wohnzimmer-Strategen in „R.U.S.E.“ über einen feschen Polygon-Tisch.

Raumerzählungen

Grand Theft Auto IV
Cruisen durch die Geschichte: „GTA IV“ bietet nicht nur knackige Action, sondern erzählt quasi im Vorbeifahren vom American Way of Life.

Beim erzählen einer Geschichte, verlassen sich Videospiele schon lange nicht mehr allein auf Bildschirmtexte und Zwischensequenzen. Viele Spiele erzählen uns sogar dann etwas, wenn sie gerade eigentlich nichts erzählen. Für den Medienwissenschaftler Dr. Mathias Mertens sind Videospiele virtuelle Räume, die wir erforschen, ordnen, erobern oder verteidigen müssen. Doch bei modernen Spielen kommt auch noch die Idee der Datenbankerzählung hinzu. Allein durch das durchqueren der Räume des Spiels, erleben wir eine Geschichte – eine Erzählung des Raumes. Besonders deutlich wird das in der „Grand Theft Auto“-Serie. Wenn wir durch die Straßen von San Andreas, Vice City oder Liberty City cruisen, überbrücken wir nicht nur den Weg zur nächsten Mission, wir erfahren auch ganz nebenbei etwas über die Hip-Hop-Bewegung der 90er, die scheußliche Mode der 70er oder über amerikanische Kultur der Gegenwart. Videospiele sind heutzutage üppige Datenbanken, die wir auf spielerische Weise durchforschen können und dabei etwas über ihre Welten lernen. Haben wir in der Vergangenheit gespielt, um unsere Geschicklichkeit zu testen, spielen wir in der Gegenwart, um der virtuellen Welt weiter beim Erzählen zusehen zu können.

Forschungsergebnis

Ein Spiel mit dem Computer, eine interaktive Geschichte, ein spielerisches Regelsystem, ein psychologischer Reaktionstest, ein taktisches Kriegsspiel und eine Raumerzählung. Jetzt wissen wir also, was Videospiele sind, oder? Für leidenschaftliche Spieler und Wissenschaftler kann die Antwort wohl nur „Jein“ lauten. Zwar gibt es viele Spannende Antworten auf die Frage „Was sind Videospiele?“, aber die eine Antwort, die alle unsere Fragen beantwortet, gibt es noch nicht. Doch das ist auch ganz gut so! Schließlich wäre nichts langweiliger als schon alles über den Master Chief, Hyrule und Co. zu wissen. Die Zukunft wird noch ganz andere Spielkonzepte parat halten, über die sich sowohl Spieler wie Forscher erneut den Kopf zerbrechen können. Außerdem leben alle Videospiele mit ihren Spielern. Kein Spiel ist wie das andere. Letzten Endes muss jeder von uns selbst entscheiden, was sie für ihn sind.

Im Gespräch mit dem Medienwissenschaftler Dr. Mathias Mertens:

Mathias Mertens

„Es müsste jetzt um provozierende Beschäftigung mit Videospielen gehen!“

Mathias Mertens

Die kniffligste Frage gleich mal am Anfang. Was sind Videospiele?

Videospiele sind Spiele. Allerdings unterscheiden sie sich von anderen Spielen durch die Art und Weise, wie ihr Spielfeld zustande kommt – nämlich durch einen Computer. Während man bei Sportspielen an die begrenzten Möglichkeiten des menschlichen Körpers, oder bei Karten- und Brettspielen an die begrenzten Möglichkeiten des menschlichen Geistes gebunden ist, kann der Computer ungleich größere Abläufe in viel kürzerer Zeit berechnen und damit völlig neue Spielerlebnisse herstellen.

Dennoch gibt es noch immer keine einheitliche Definition. Warum ist es so schwer genau zu sagen, was Videospiele sind?

Die Schwierigkeit besteht darin, dass kaum Verständnis für die zugrundeliegende Technik herrscht. Dass ein Computer sehr schnell und sehr viel rechnet ist so unanschaulich, dass man dafür kein Gefühl entwickeln kann und somit auch nur schwer Worte findet. Dass Filme eine Abfolge von Bildern sind, das lässt sich hingegen relativ leicht nachvollziehen. Und wir verstehen Schrift in Büchern, weil wir sie auch selbst machen können. Deshalb verwechseln wir Bücher auch nicht mit Gemälden, obwohl beide farbige Formen auf einer rechteckigen Fläche zeigen. Wenn man aber kein Gefühl dafür hat, was ein Computer ist, passiert es schon mal, dass man die bewegten Bilder, die er im Videospiel produziert, mit einem Film verwechselt.

Noch haben Videospiele keine eigene Forschungsdisziplin. Warum dieses Durcheinander?

Das ist bei jeder Form von Kultur unvermeidlich. Kultur ist ein Gemisch aus vielen Kräften und Prinzipien – da muss man sich zwangsläufig auf viele Weisen mit den Dingen beschäftigen. Videospiele sind vielleicht der Gegenstand, an dem sich der Glaube, man könne Kunstobjekte mit nur einer Disziplin vollständig untersuchen, endgültig auflösen wird.

Welchen Nutzen bringt die Erforschung von Videospielen?

Eine wissenschaftliche Untersuchung ist sehr wichtig, um das Verständnis zu verbessern, was mit Spielen möglich ist und was nicht. Auch erfahren wir mehr darüber, was Menschen mit ihnen machen können und was nicht. Und eventuell entdecken wir sogar neue Spiele, die man vorher gar nicht mit Spielen in Verbindung gebracht hätte.

Und was kann die Wissenschaft aus der Beschäftigung mit Videospielen lernen?

Sie lernt etwas über ein kulturelles Phänomen und darüber, wie sich Menschen in den letzten 50 Jahren Computertechnik und ihre Prinzipien angeeignet haben. Außerdem erfährt die Wissenschaft etwas darüber, welche künstlerischen Formen auf der Grundlage eines Rechners möglich sind. Nicht zuletzt hilft ihr die Auseinandersetzung mit Videospielen, ihre Konzepte und Grundannahmen anhand eines überaus komplexen Gegenstands zu überprüfen und zu überdenken.

Wird das Thema Videospiel in der Wissenschaft denn auch ernst genommen?

Inzwischen muss man nicht mehr begründen, warum man sich mit Videospielen beschäftigt. Das momentane Problem sehe ich eher darin, dass viele ganz unaufgeregt und selbstverständlich über Computerspiele forschen und schreiben und dabei auch nur ganz unaufregende und eigentlich selbstverständliche Aussagen machen. Nachdem Videospiele also keine Provokation mehr sind, müsste es jetzt um provozierende Beschäftigungen mit ihnen gehen.

Sind Videospiele also nur kindische Spielerei oder ein ernstzunehmendes Medium?

Eigentlich immer beides. Und hoffentlich bleibt das auch so.