Und B:
Zuletzt habe ich von Matthias A. K. Zimmermann den Roman KRYONIUM. Die Experimente der Erinnerung gelesen. IMITATHYOS. Das unendliche Alphabet macht nahtlos dort weiter wo sein spiritueller Vorgänger aufhört: beim Erforschen der analogen und digitalen Elemente der Kreativität. Erneut fühlt man sich in eine der detaillierten und verspielten »Modellwelten« des Medienkünstlers Zimmermann versetzt. Bilder, die nicht nur einen Inhalt darstellen, sondern auch den Prozess ihrer (digitalen) Bildproduktion transparent machen, reflektieren und subversiv remixen. Im Roman funktioniert das nicht mit Farben, Formen und Verweisen auf die Mediengeschichte, sondern durch ein Spiel mit dem Alphabet.
Ich könnte jetzt die grundlegende Erzählprämisse und die Figuren des Romans vorstellen, aber das würde nur unnötig spoilern und am Kern vorbeiführen (außerdem macht der Klappentext da bereits einen hinreichenden Job). Das Buch springt zwischen Genres, narrativen Klischees und Perspektiven hin und her, bleibt nie vorhersehbar oder gradlinig. Ein roter Faden zeigt sich erst, wenn man den Blick von der Geschichte auf das Material der Geschichte verschiebt. Schriftzeichen, Buchstaben und Alphabete stehen im Zentrum des Romans, sind sowohl dessen Thema als auch Bedingung. Man könnte mit dem Medienforscher Marshall McLuhan sagen, dass in IMITATHYOS das Medium die Botschaft ist. Unser Alphabet formt die Kausalitäten der Geschichte – auf A folgt B folgt C – und definiert den Rahmen des Erzählbaren. IMITATHYOS ist eine Gutenberg-Insel. Dabei wird mit Brüchen der vierten Wand, typografischen Effekten, ASCII-Art und metatextuellen Verweisen die gesamte Bandbreite des Möglichen erprobt. Allein dafür lohnt es sich, den Roman zu lesen!
Dass ich dennoch nicht ganz die volle Punktzahl geben kann, hängt mit dem Tucan im Detail zusammen. Experimentelle Ansätze werden mit bemerkenswerter Konsequenz durchgezogen, etwa Aufzählungen stets alphabetisch geordnet, mit der Zeit ermüdet das jedoch durchaus beim Lesen. Der Roman ist über zehn Jahre hinweg entstanden und man merkt ihm die lange, forschende Suchbewegung ein wenig an. Spannend, aber man sollte wissen, worauf man sich dabei einlässt. Inhaltlich ist mir zudem die recht klischeebeladene Darstellung von schweren Krankheitsbildern, Behinderung und Suizid aufgefallen. Ist natürlich auch eine Frage der Erzählperspektive, aber da hätte ich mir persönlich eine etwas sensiblere Repräsentation gewünscht. Dies sollte aber nicht davon abhalten, das Experiment zu wagen und das Geheimnis der Gutenberg-Insel aufzudecken!

IMITATHYOS. Das unendliche Alphabet
von Matthias A. K. Zimmermann
Roman, 300 Seiten
Edition Modellwelten / BoD GmbH, Norderstedt 2024
ISBN 978-3-8370-2444-9 (Hardcover)
ISBN 978-3-8370-6776-7 (Hardcover mit hochwertiger Ausstattung: Fadenbindung, Brillantdruck)
ISBN 978-3-7583-3623-2 (E-Book)
➡️ Leseprobe
Klappentext:
Buchstaben, die Bausteine der Sprache, werden in diesem Roman zu Elementen, die Gefahren und Geheimnisse heraufbeschwören. Mina ist eine angehende Schriftstellerin aus Athen und gerät mit ihrer Schwester und deren Freund auf die künstlich geschaffene Insel Imitathyos – ein Utopia für exklusive Touristen. Doch ein unerwarteter Vorfall löst eine Kette bizarrer Ereignisse aus, und eine Rückkehr scheint unmöglich. In den Wirren dieser futuristischen Welt zunehmend verloren, müssen Mina und ihre Mitreisenden die rätselhafte Realität entschlüsseln, wenn sie von hier fortkommen wollen, bevor eine drohende Katastrophe sie für immer auf der Insel festhält. In dieser Odyssee entfaltet sich die Kraft der Buchstaben und zeigt, wie Worte die Wirklichkeit formen.