WASD – Bookazine für Gameskultur #16

WASD #16: Fair is foul, and foul is fair!

Ein Plädoyer für unfaire Games.

Balancing belohnt Anpassung an die Ideallinie und schließt alle aus, die nicht auf die Waage passen. Allein Unfairness für alle verspricht auch gleichen Zugang für alle. Und erzählt nebenbei die interessanteren Geschichten. Ein Text aus dem WASD – Bookazine für Gameskultur Nr. 16.

Das Leben ist kein Ponyhof. Überall wo man hinschaut, sind Ressourcen unfair verteilt, wird Zugang beschränkt, herrscht Willkür und Grausamkeit. Nur in Computerspielen scheint alles paletti. Wenn man Geduld hat und regelmäßig trainiert, kann dort wirklich jeder eine gelungene Erfahrung machen. Manchmal hart, aber immer fair. Gleiche Voraussetzungen auf einem ebenen Schlachtfeld. So zumindest das allgemeine Verständnis. Schaut man jedoch auf umstrittene Schlüsselwerke des Hart-aber-fair-Genres wie Dark Souls, muss man sich schon fragen: Fair für wen? Denn Gerechtigkeit fällt nicht einfach vom Himmel, sie wird maßgeschneidert. Im Game-Design passiert das durch den Akt des Balancing. Und Gleichgewicht lässt sich nur herstellen, wenn man kennt, was man vergleicht.

Fairmessung

Da trifft es sich gut, dass Games spielgewordene Messinstrumente sind. Ihre Frühgeschichte ist gespickt mit Anekdoten von Menschen, die den Spaß an der maschinellen Selbstausmessung entdeckt haben. Psychologen, die Highscores beim schnellen reagieren auf Glühbirnen aufstellen. Arbeitswissenschaftler, die ihre Arbeiter wie bei Dance Dance Revolution nach Symbolen um die Wette tanzen lassen. Physiker, die gegeneinander Tennisball- statt gegen die Sowjets Raketen-Flugbahnen optimieren. Alle haben gemeinsam, dass nun nicht mehr der Mensch, sondern eine Maschine die schiedsrichterliche Instanz ist. Der Eintritt des Computers in das Spiel macht Fairness endgültig zu einer Frage reproduzier- und damit vergleichbarer Messergebnisse. Unbestechlicher wird es nicht.

Dabei sind Spiele aus kulturgeschichtlicher Perspektive eine sehr schwammige Angelegenheit. Nicht so sehr Gewinnen oder Verlieren sind von Bedeutung, sondern Gelingen. Und das ist meist eine Frage der Auslegung. Spiele können in gelungener Weise verloren, aber auch völlig misslungen gewonnen werden. Wer drückt beim analogen Monopoly nicht mal ein Auge zu, um die gesellige Runde nicht vorschnell enden zu lassen? Und wo der Zufall am Roulette-Tisch in jedem Fall für den erwünschten Nervenkitzel sorgt, fällt das Feature in XCOM unangenehm als Bug auf. Denn der Computer reduziert jedes Gelingen auf registrierte Arbeit über Zeit. Leistung, also. Und nur wo Leistung konsequent möglich und vergleichbar ist, werden Games als gerecht wahrgenommen. Sonst könnte ja jeder kommen.

Wie Meritokratien sterben

Unangenehmer Nebeneffekt dieser Digitalisierung der Fairness ist die Individualisierung von Erfolg und Misserfolg. „Git Gud“ ist zum Schlachtruf all jener geworden, die unter großem persönlichen Einsatz von Zeit und Disziplin eine fulminante Anpassungsleistung an einen reproduzierbaren Idealwert vollbracht haben. Und zu dumm nur, wenn Körper oder Psyche von vornherein nicht kompatibel mit dem Messinstrument sind. Denn die objektive Instanz des Computers kennt nur Gewinnertypen und Faulpelze, Kunstverächter, Schneeflocken. In der vermeintlich gerechten Utopie des digitalen Spiels gelten keine analogen Ausreden. Die Versager illustrieren nur, wie fair das System eigentlich ist, weil es schlechte Leistung zuverlässig aussortiert. Eine Extrawurst für Arbeitsverweigerer wäre unfair.

Um Spiele wie Dark Souls hat sich dadurch ein regelrechter Verdienstadel gebildet. Ebenso in quasi jedem kompetitiven Online-Game von League of Legends bis Fortnite Battle Royale. Akademiker wie Christopher A. Paul reden auch von einer Meritokratie, einer Herrschaft der Leistungsfähigsten. Laut Paul mag diese gesellschaftliche Organisationsform einleuchtend erscheinen – warum sollten die Fähigsten nicht das Sagen haben? –, hat aber noch nirgends dauerhaft funktioniert. Konnte sich erstmal eine Führungsriege etablieren, definiert sie von nun an selbst, wie Leistung zu messen sei, wie ein fairer Vergleich auszusehen hat. Wie es der Zufall will, reproduzieren sie dabei exakt jene Bedingungen, denen sie ihren eigenen Status zu verdanken haben. Meritokratien sterben als Aristokratien.

Was fair im Computerspiel ist, hängt also davon ab, was kompatibel mit der Maschine ist und welche Kirschen sich eine selbsternannte Elite im eigenen Interesse von dieser Torte picken kann. Aber was wäre die Alternative zum Paradox unfairer Fairness? Soll einfach jede Person – unabhängig von der individuellen Leistung – eine Chance auf den Sieg haben? Ja, warum eigentlich nicht. Spiel ist nicht Sport oder Arbeit. Das Party-Game B.U.T.T.O.N. hat vor ein paar Jahren vorgemacht, wie man die Auslegung des Gelingens zurück in die Hände der Spieler*innen legen kann. Wie der volle Titel selbst so schön sagt: Brutally Unfair Tactics Totally OK Now. Und umso mehr sollte kein Mensch um die Chance einer spektakulären Niederlage gebracht werden, denn hier passieren die viel interessanteren Dinge.

Downtime, everything’s waiting for you

Unfairness ist unbeliebt, weil sie zu unverdienten Niederlagen führt. Und für Niederlagen kennt das Computerspiel nur eine frustrierende Konsequenz: Downtime. Verlierer werden mit Wartezeit gestraft. Unfairness ist also vor allem deshalb ein Problem, weil sie Menschen willkürlich in die Passivität zwingt. Aber keine Definition des Spielens von Spielen sieht vor, dass Verlierer untätig sein müssen. Eine falsche Grundannahme, die einfach nicht totzukriegen ist. Zu sehr speist sich die toxische Gaming-Meritokratie aus der Gewissheit, dass Underachiever auch eine suboptimale Spielerfahrung machen. Wäre das Scheitern nicht mehr das Ende eines Spiels, sondern ein interessanter Scheideweg, würden diese konstruierten Hierarchien einstürzen. Nicht-Leistung könnte sich wieder lohnen.

Ohne Downtime verliert die Unfairness ihren Stachel. Aber wo Fairness im Computerspiel allein die Fähigen begünstigt, behandelt Unfairness alle gleich. Sie muss niemanden ausmessen, weil völlig gleichgültig ist, ob eine eSportler*in oder eine Rentner*in vor dem Bildschirm sitzt. Beide machen nun neue, unverdiente Erfahrungen, von denen sie ohne den Mangel an Balancing ausgeschlossen gewesen wären. Alles was es dafür braucht, ist ein neuer Umgang mit der kreativen Leerstelle der Downtime. Sie könnte alternativen Spielmechaniken Platz machen, ein Metagame beherbergen oder die Geschichte schlicht dort weitererzählen, wo sie vermeintlich aufhört. Besonders ehemaligen Gewinner profitieren vom Unbalancing: Statt ewig der Ideallinie nachzujagen, verzweigen sich vor ihnen nun unzählige neue Pfade.

In The Path beginnt das Spiel überhaupt erst, wenn die Spieler*innen an der Hauptquest »Folge dem Pfad zur Großmutter!« scheitern und sich mit Rotkäppchen stattdessen im Wald verlaufen. Am Ziel wartet das Game Over, abseits der Ideallinie das Abenteuer. Zwar mag das Werk der Künstlergruppe Tale of Tales bereits mehr als zehn Jahre alt sein, seine Innovationskraft ist jedoch ungebrochen. Als Notgame – ein Game, das die vermeintlichen Standards von Games ignoriert – kann es sich voll auf das Gelingen als Spielerfahrung konzentrieren. Gewinnen und Verlieren werden zur Pointe eines Witzes und damit wieder Auslegungssache. In The Path ist es geradezu ein unfairer Vorteil, keinen Plan von Computerspielen zu haben. Mit Orientierung und Selbstkontrolle macht man sich nur lächerlich.

Kulturgut des Scheiterns

Niemand, wirklich niemand schreibt Fan-Fiction darüber, wie das Zwergenvolk in Dwarf Fortress von einem goldenen Zeitalter in das nächste stolpert. Nein, im Gegenteil. Die Simulation produziert eine Chronik des Scheiterns nach der anderen. Jede einzigartig, unterhaltsam und langfristig unvermeidbar. Ein Prototyp dafür, wie Computerspiele auch mit Niederlagen umgehen könnten. Als Quelle interessanter Geschichten. In anderen Kulturformen ist das nicht anders. Selten erzählen Literatur, Theater und Film davon, wie alles ganz glatt läuft. Im Game müssen jedoch auch Tragödien hart (aber fair) erarbeitet werden. Wahrscheinlich scheitern sie deswegen noch so oft daran, abseits der Spielkultur-Blase, mehr als ein anerkennendes Nicken bei der Feuilletonlektüre auszulösen.

Das Leben mag oft nicht fair sein. Aber Spiele sind ein Ort, an denen sich Unfairness ohne negative Konsequenzen für den Alltag erproben ließe. Alles richtig machen und trotzdem scheitern. Oder alles falsch machen und trotzdem triumphieren. Das Schicksal bestimmt von unwägbaren, höheren Mächten. Andere kulturelle Bereiche haben diese Kultur des Scheiterns längst verinnerlicht. Von der Kunst bis zum analogen Sport. Die Verlierer bekommen dort ebenso Aufmerksamkeit wie die Gewinner.  Selbst in der Kulturgeschichte des Spielens von Spielen war das für die längste Zeit der Fall. Nur das Computerspiel möchte von Niederlagen erzählen, ohne dass Sieger dafür auf ihren fairen Sieg verzichten müssen. Kriege auf Ideallinie. Antihelden mit Achievement. Das klingt nun wirklich ungerecht.

Christian Huberts ist überzeugter Verlierer. Auf seinem Blog www.schauanblog.de versammelt er seine größten Niederlagen.