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Computerspiele sind zu schön, um wahr zu sein.

Strahlende Sonnenuntergänge, melancholische Landschaften und tragische Helden – für viele ist das große Kunst. Aber Hand aufs Herz: Die meisten Computerspiele sind schöner Kitsch. Kein Grund zum Spott.

Schön kitschig!

von Christian Huberts

Strahlende Sonnenuntergänge, melancholische Landschaften und tragische Helden – für viele ist das große Kunst. Aber Hand aufs Herz: Die meisten Computerspiele sind schöner Kitsch. Kein Grund zum Spott.

Dieser Text erschien ursprünglich im WASD Bookazine für Gameskultur.
Ausgabe #15 ist sehr schön. Hier kann man sie kaufen.

„Die Sonne war verschwunden, und der Westen glühte in hellen Farben, die nach und nach in den tiefsten Purpur übergingen, sich dann entfärbten und im Abendgrau erloschen.“ Nein, hier wird nicht der Sonnenuntergang über dem Roanoke Valley von Red Dead Redemption 2 beschrieben. Es sind die Worte des Hochstaplers Karl May. Wenig später wird Winnetou, Häuptling der Apachen, seine Augen schließen und im Beisein von Old Shatterhand in die ewigen Jagdgründe eingehen. Jedoch nicht ohne sich zuvor – ein Ave Maria im Ohr – zum Glauben zu bekennen: „Winnetou ist ein Christ. Leb wohl!“ Purer Kitsch.

Computerspiele inszenieren Leben und Sterben ihrer Helden selten subtiler. In hyperrealistischen Lichtstimmungen werfen dort klischeebeladene Figuren ihre emotionale Schatten über epische Landschaften. Unterlegt mit traurigen Geigen, werden Spieler*innen garantiert die Augen feucht. „Leb wohl!“ Journey hat sich mit dieser kitschigen Blaupause sogar den Status der Kunst erspielt. Und auch Red Dead Redemption 2 ist näher dran am oberflächlichen Abrufen großer Gefühle, als es der Hype wahrhaben möchte. „Gut“, schreibt der Schriftsteller Hermann Broch, werde all zu oft mit „schön“ verwechselt.

Effekte

Dieser Diskurs ist alt und alles andere als einheitlich. Sprach Friedrich Schiller im 18. Jahrhundert noch vom Pathetischen und den bloßen „Ausleerungen des Tränensacks“, kennt das 20. Jahrhundert bereits ein ganzes Arsenal an Differenzierungen – vom „Devotionalienkitsch“ bis zur „Ornamentwut“. Und während 1951 für Broch der Kitsch „das Böse im Wertsystem der Kunst“ war, beschreibt Susan Sontag ihn 1964 versöhnlicher als „Liebe zur Übertreibung“. Nahezu alle Auslegungen erkennen jedoch den zentralen Hang zum Effekt. Kitsch erzeugt Wirkung, die durch seinen Inhalt nicht gerechtfertigt scheint.

In seinem Review zu Gone Home, betont Ian Bogost genau diese schmerzhafte Tatsache: Die Geschichte eines sexuellen Erwachens, ist in anderen Kulturformen bereits keiner besonderen Erwähnung mehr wert. Melancholische Klänge und gedimmte Lampen sorgen für jene dramatische Wirkung, die der eher magere Inhalt allein nicht auslösen kann. Trotz der Relevanz für das Medium, setzt Gone Home damit auf Altbewährtes. „[D]as Gewesene und Erprobte“, schreibt Hermann Broch, „wird immer wieder beim Kitsch zum Vorschein kommen“. Computerspiele berühren mit Schablonen aus der Kunst- und Kulturgeschichte.

Um ruhige Reitausflüge und generische Shootouts wirksam zu rahmen, zitiert auch Red Dead Redemption 2 großzügig aus den Standardsituationen des Western-Genres. Mexican stand-off. Geläuterte Moral („Winnetou ist ein Christ“). Ritt in den Sonnenuntergang. Die malerischen Hintergründe liefern dafür die Maler der Hudson River School, deren verklärter Blick auf amerikanische Ur-Natur spätestens in der Wiederholung als Game zum Klischee gerinnt. Das Bewährte schützt die Open World vor zu viel Offenheit und das Schöne überstrahlt nicht nur altbackenes Gameplay, sondern auch selbstzweckhafte Gewalt.

Saurer Kitsch

Kitsch sei eine „Verwechslung der ethischen mit der ästhetischen Kategorie“, ergänzt Hermann Broch. Ist ein Game „schön“ statt „gut“, meint das also nicht nur einen Mangel an Qualität. Für die Erzählung von Red Dead Redemption 2 sterben ganze Dörfer im Kugelhagel. Gewalt wird als moralischer Effekt so großzügig wie Glitter verstreut. Einen spektakulären Gewitterschauer später sind die Konsequenzen weitgehend vergessen, als hätte es nur den Sheriff und nicht auch alle seine Deputies erwischt. Solcher Gewaltkitsch mache, so Broch, „kraft Ästhetentums taub gegen die Schmerzensschreie der Opfer“.

Innerhalb der Spielkultur ist es zu einer überstrapazierten Strategie geworden, Reife und Tiefe durch genau diese Überbetonung von Tod und Gewalt zu behaupten. Wenn sich der „süße“ Kitsch durch das Ansehnliche, Optimistische und moralisch Erwünschte auszeichnet, so die simple Logik, müsse nur das Gegenteil deutlich betont werden, um etwas Kunstvolles zu schaffen. Ein Irrtum, für den der Kunsthistoriker Curt Glaser den Begriff des „sauren“ Kitsches geprägt hat. Kaum ein Game verkörpert das so exemplarisch, wie die Genozid-Fantasie Hatred. Ein röhrender Hirsch unter den Amoklauf-Simulatoren.

Kultureller Übergangswert

Trotz der Richtigkeit dieser Beobachtungen sollte klar sein: Bis in das späte 20. Jahrhundert hat der Kitsch-Diskurs sein ganz eigenes Problem mit Kleingeistigkeit. Der Soziologe Pierre Bourdieu erkennt in der „Ablehnung des Leichten“ einen klassenpolitischen Versuch des Bürgertums, für sich ein „Monopol auf Menschlichkeit“ durchzusetzen. Lust auf Kitsch ist jedoch keine Barbarei. In Form von „Camp“ ist sie, nach Susan Sontag, „eine Art unter anderen, die Welt als ästhetisches Phänomen zu betrachten“. Doch auch wenn das Leichte nicht verwerflich ist, sollte es von Kunst unterschieden werden.

Das betont 2011 ebenso die Branchenlegende Brian Moriarty in seiner ernsthaften Entschuldigung an den „Video games can never be art“-Miesepeter Roger Ebert. Dem Bibliothekar Erwin Ackerknecht mangelt es 1934 zwar ebenfalls nicht an bildungsbürgerlicher Hybris, aber zumindest attestiert er dem Kitsch einen „kulturellen Übergangswert“. So erkennt er, dass sich Kitschiges überall in der Kunst finden lässt sowie „Kitschwerke auf die ihnen entsprechende […] Erlebnisschicht kunstgleiche Wirkung ausüben“. Kurz: Karl May lesen ist okay. Und auch Unterhaltung ist Training für den Ernstfall der Kunst. 

Ian Bogosts Kritik an der Rezeption von Gone Home kann in dieser Hinsicht verstanden werden: An dem Spiel ist nichts falsch, es sollte jedoch nicht als Endpunkt einer Entwicklung gesehen werden, sondern als deren Vollzug. Im Kitsch erproben Spielentwickler*innen die Ausdrucksmöglichkeiten des Mediums und schulen Spieler*innen ihr Kunsterleben. Das Risiko bleibt so übersichtlich und das potentielle Publikum groß. Als kultureller Übergangswert ebnen Journey, Gone Home und Red Dead Redemption 2 den Weg für noch gelungenere Spielerfahrungen, die zunehmend auf schönen Kitsch verzichten können.

Durchspielen des Selbst

Was ein Game von einer nur kunstgleichen Erfahrung zu einer gelungenen Kunsterfahrung macht, wird in Zukunft näher zu bestimmen sein. Der Philosoph Daniel Martin Feige hat mit seiner Ästhetik des Mediums bereits viel Vorarbeit geleistet. “Der Witz von Computerspielen als Kunstwerken besteht darin“, schreibt er, „dass sich der Spieler im Spielen dieser Computerspiele selbst durchspielt“. Doch dieses „Reflexionsgeschehen“ gelingt selten dann, wenn nicht das Spielgeschehen die zentrale Rolle dabei spielt, sondern auf effektvolle Referenzen zu bereits gelungener Kunstgeschichte gesetzt wird.

Vilém Flusser liefert wohl die beste Definition von Kitsch. Der Medientheoretiker redet vom Recycling entsorgter Kultur. Nimmt die „Vergegenwärtigung von Vergangenem“ überhand, entsteht Stau. Neues findet keinen Platz, Altes wird zerredet. „Im Grunde ist daher Kitsch eine Methode“, schreibt er, „angesichts der Absurdität des Menschseins gemütlich zu sterben“. In dieser nostalgischen Verklärung der schönen Vergangenheit, hat sich auch die Spielkultur eingerichtet. Nur mit offener Selbstreflexion wird sie nicht so wie Winnetou enden. Bekehrt, im purpurnen Abendlicht, mit Engelsgesang im Ohr.

Christian Huberts mag lange Spaziergänge durch goldene Herbstwälder und schreibt darüber sehnsüchtig in seinem Tagebuch: www.schauanblog.de.