The Christian Parable
von Christian Huberts
Wie Christian sich einmal beim Schreiben eines Artikels für das WASD Bookazine beobachtete und anschließend darüber schreibt, wie Christian sich einmal beim Schreiben eines Artikels für das WASD Bookazine beobachtete und anschließend darüber schreibt.
Leere Seite. Der Cursor blinkt erwartungsvoll. Christian sitzt vor seinem Mac mini. Die Deadline für die WASD Nr. 18 steht bevor. Zumindest ein paar Absätze sollte er heute noch schreiben. Oder eine Gliederung. Autorenzeile wäre auch schon was. Danach gibt es ein Duplo mit weißer Schokolade zur Belohnung. Kinder Country ist leider seit Wochen ausverkauft beim REWE, aber Duplo ist auch in Ordnung.
Zunächst braucht er einen spannenden Einstieg, einen kleinen, interessanten Vorgeschmack darauf, was die Leserinnen und Leser erwarten dürfen. Es muss auch ein wenig überraschend sein, ein wenig damit brechen, was man sonst so vom Thema kennt. Das Thema? Christian schreibt für die WASD über das Schreiben für die WASD. Ein bisschen meta also. Weiße Schokolade ist auch in Ordnung, denkt er.
Anamnese
Im Studium hat Christian gelernt, dass es beim kulturjournalistischen Schreiben darauf ankommt, die Gegenwart zu symptomatisieren. Sich wie Walter Benjamin auf Haschisch fragen, warum die Marzipanfiguren im Schaufenster alle so kränklich aussehen. Ist das Tempo der modernen Großstadt schuld? »Mit dem Löffel muß man das Gleiche aus der Wirklichkeit schöpfen«, wie der bekiffte Flaneur schreibt.
Christian hat so schon einige Games ausgelöffelt. Nicht stoned, aber mit stets neuen Geschmacksrichtungen. Krieg, Liebe, Tod. Aber das allein reicht nicht. Ein Kulturjournalist muss sich selbst beobachten, beim Beobachten der Gegenwart. Wieder Benjamin, high in Marseille: »Ich sah nämlich nur Nuancen: diese jedoch waren gleich.« Christian fragte sich, ob er sich ebenso im Besonderen verzettelt.
Symptomatisch
Nein, dachte er. Was zählt sind die Details, die besondere Kränklichkeit der Marzipanfiguren. Denn was lässt sich über die tausendste Variante von Rogue sagen, außer dass es die tausendste Variante von Rogue ist? Im Moment, in dem sich ein ästhetisches Muster zu einem Genre verfestigt hat, ist es aussymptomatisiert. Demon’s Souls ist interessant, Soulslikes sind hingegen nur wie Demon’s Souls.
Darum schreibt Christian lieber über Dear Esther als DOOM, lieber über Disco Elysium als Baldur’s Gate 3. Der wandelbare Kern von Computerspielen, ihr Potenzial als ästhetisches Medium wird erst dort sichtbar, wo das Gewohnte enttäuscht und die Regel gebrochen wird. Besonderheit zeigt sich im Besonderen. Den etablierten Genre-Standard kann man hingegen unabhängig vom Einzelfall beschreiben.
Man könnte wohl von Review-likes sprechen. Genial, der Einfall ist bereits ein Duplo wert, freut sich Christian. Fans von Battle-Royale-Rezensionen greifen zu, alle anderen lesen Probe! Und Prozentwertungen beschreiben ja quasi die quantitative Erfüllung von Erwartungshaltungen, nicht die Qualität einer Spielerfahrung. FIFA 21 ist zu 78% ein gelungenes FIFA. Die WASD schreibt keine Review-likes.
Asymptomatisch
Ja, dachte er. Die Ausnahmen gleichen sich in ihrer Belanglosigkeit. Was zählen kränkliche Marzipanfiguren, wenn der Normfall gesund sein sollte? Christian, die WASD, haben Nischenphänomene und Nischenbeobachtungen zum Goldstandard erhoben, die überhaupt nur ein Nischenpublikum jucken. Wer isst noch Marzipanfiguren, wenn man auch ein Kinder Country oder seinetwegen auch ein Duplo essen könnte?
Darum sollte Christian besser über DOOM als Dear Esther, besser über Baldur’s Gate 3 als Disco Elysium schreiben. Der unveränderliche Kern von Computerspielen, ihre Eigenschaften als digitales Medium werden besonders dort sichtbar, wo das Gewohnte sich bestätigt und die Regel wiederholt wird. Gültigkeit zeigt sich im Gültigen. Die originelle Genre-Randnotiz hat keine dauerhafte Relevanz.
Was den kulturjournalistischen Hot-Takes fehlt, ist Systematisierung und Vergleichbarkeit. Hier hat sich Christian, wie er fürchtet, kein Kinder Country, nicht mal ein Duplo mit weißer Schokolade verdient. Vielleicht ein normales. Kriterien, Wertungen und undurchlässige Grenzziehungen schaffen Orientierung und Verbindlichkeit. Jedes FIFA der neue Beweis für die Realität von FIFA. Git Gud, WASD!
Diagnose
Im Schreiben über Computerspiele tobt der alte Kampf zwischen Empirie und Hermeneutik. Das geisteswissenschaftliche Herausschälen von Bedeutung durch Interpretation und Diskurs auf der einen Seite. Das naturwissenschaftliche Erzeugen von Datensätzen durch Kategorisierung und Ausmessung auf der anderen. Beide haben ihre Schwächen, neigen zu anekdotischer beziehungsweise positivistischer Evidenz.
Christian beschäftigt das regelmäßig beim Schreiben für die WASD. Wenn erneut ein einsames Beispiel als Kronzeuge für breitbeinige Thesen herhalten muss. Keine Ahnung: Computerspiele sind definitiv nicht hyperräumlich genug, weil Christian halt nun schon echt sehr lange auf Miegakure mit vier Raumdimensionen wartet. Ein Take, schätzt Christian, der nur bis zum ersten 5D-Game haltbar sein wird.
Am Ende entwickeln wir alle professionelle Deformationen, vermutet Christian. Mit kulturjournalistischem Blick ist jedes Game ein kränkliches Symptom für irgendwas. Und mit Genrebegriffen und Prozentwertungen im Werkzeugkasten, schnurrt jedes Computerspiel zu asymptomatischen Vitalzeichen zusammen. Zu den Verengungen der Perspektive gesellen sich gleichsam tote Winkel. Winkel der Sprachlosigkeit.
Wenn der Spielejournalismus seine Ausnahmefälle nicht oder nur schlecht bewertet, fehlt schlicht das nötige Besteck. Das Sperrige ist ein Affront gegenüber geölten Schubladensystemen. Und wenn Christian ehrlich ist, fehlen ihm zunehmend wohlwollende Worte für das Typische. Wiederholung langweilt ihn sehr, fühlt sich wie Grind an – jedes Spiel will dieselben Handbewegungen und Denkmuster von ihm.
Therapie
»Die Welt bringt ohne Unterlaß Verdammte Dinger hervor«, schreibt U-Boot-Kapitän Hagbard Celine in seinem Buch »Pfeif Nicht, Wenn Du Pisst«. Nach achtzehn Ausgaben erwischt sich Christian häufiger beim gleichzeitigen Pfeifen und Pissen. Seine Standardreaktion auf verdammte Game-Dinger ist ein Zitat von Claus Pias auf den Lippen und ein kräftiger Mittelstrahl aus gewagten Thesen. Bissl hochmütig.
Was soll Christian also über sein Schreiben für die WASD schreiben? Es ist bitter notwendige Alternative zum Review-like, aber auch Detail-bekiffter Fressflash auf kränklich aussehende Marzipanfiguren. Er will es ganz bestimmt nicht so weit kommen lassen wie Benjamin, der am Ende auch Pflastersteine zum »Brot meiner Phantasie« hochjazzt. Wo liegt also der Sweet Spot zwischen Nuance und Norm?
Vielleicht ist die Erkenntnis seiner Selbstbeobachtung, denkt Christian über sich selbst, sich selbst gut zu beobachten. Meta bleiben, die eigene Relevanz, aber auch Lächerlichkeit, immer wieder neu zum Symptom erklären, um weder abzuheben noch stillzustehen. Bin ICH eine kränkliche Marzipanfigur? Ja, das klingt jetzt wirklich deep genug für seinen WASD-Text. Zack, an die Arbeit. Leere Seite.
Christian Huberts ist Christian Huberts, siehe christianhuberts.de.
1 Kommentar
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