Ein Text aus dem WASD-Bookazine Nr. 9.
Da sein: The Witness & Firewatch
von Christian Huberts
Der Job der Brandwache von Firewatch ist nicht, so betont die Vorgesetzte Delilah per Funkgerät, die Wildnis von Wyoming vor dem Verbrennen zu bewahren, sondern da zu sein, wenn es passiert. Henry, die Hauptfigur des explorativen Adventures, bleibt bei seinen Wanderungen durch den Shoshone National Forest ein passiver Beobachter. The Witness trägt die Zeugenrolle ebenfalls bereits im Titel. Auf einer mit Puzzlen gespickten Insel soll das gesamte Dasein bezeugt werden. Zwei Spiele, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten und die sich dennoch an einem gemeinsamen Thema abarbeiten. Was heißt es, die Welt zu beobachten und darin Erkenntnis oder Schönheit zu finden? In ihren Landschaften und Mechaniken antworten die Spiele mit gegensätzlichen Philosophien.
Der unnütze Baum
The Witness zitiert Wissenschaftler und Philosophen, um eine fragwürdige Ideologie zu vermitteln: Welterkenntnis ist objektive Mustererkenntnis. Kunst hingegen ist reine Interpretation: nutzlos. Selbst daoistische Denker werden dazu eingespannt und missverstanden. Eine Geschichte im Zhuangzi – ein Kerntext des Daoismus – handelt von einem knorrigen Baum. Niemand will ihn fällen, weil sein Holz zu nichts zu gebrauchen scheint. Und genau darin erkennt Meister Zhuang seinen Nutzen. Weil er nutzlos ist, darf der Baum da sein, Schatten spenden und Wanderern eine Freude bereiten. In The Witness sucht man solche Bäume vergeblich.
Firewatch ist voll von nutzlosen Dingen. Das ganze Naturschutzgebiet des Spiels ist ein funktionaler Leerraum und genau deswegen so betörend schön. Äste brechen das Licht der Sonne. Vogelschwärme gleiten über tiefe Schluchten hinweg. Bäche plätschern in stille Waldseen. All das hat keine Funktion, außer dass es existiert und die Spielenden da sein können. Kein Baum und keine Felsformation werden sich hier je – aus der einzig gültigen Blickperspektive betrachtet – als Lösungsmuster zu einem Puzzle entpuppen. Im Gegensatz dazu ist die Insel von The Witness eine zwar hübsche, aber sterile und effiziente Möbelhaus-Ausstellungsfläche – voll bis zum Rand mit Funktionalität.
Die Freude der Fische
Nichts in The Witness ist lebendig. Andere Menschen begegnen den Spielenden als Statuen. Fische entpuppen sich als die Reflexion fischähnlicher Wurzeln im Wasser. Und Tierstimmen kommen nur aus dem Lautsprecher. Jonathan Blow, der perfektionistische Entwickler des Spiels, hat schon im Vorfeld der Veröffentlichung versprochen, dass es keinen Überschuss geben wird. Die Erfahrung des Lebendigen ist überflüssig. Leben offenbart sich in The Witness als Frequenz von Vogelstimmen oder als Selbstähnlichkeit von Baumstrukturen, Blutgefäßen und labyrinthischen Rätseln.
In einer anderen Geschichte des Zhuangzi spaziert Meister Zhuang mit Meister Hui an einem Fluss entlang. Zhuang erkennt die Freude der Fische, der objektive Hui zweifelt ihn an. Zhuang sei kein Fisch und müsse die Freude der Fische daher schon begründen können. Meister Zhuang antwortet, dass Hui nicht er sei und daher schon begründen müsse, warum Zhuang die Freude der Fische nicht erkannt haben soll. Auch wenn Jonathan Blow wohl gerne der weise Meister Zhuang wäre, so ist er doch der bornierte Meister Hui. In Firewatch braucht die nur empfundene Freude, Trauer und Zuneigung von Henry und Delilah jedenfalls keine objektive Begründung.
Wo The Witness jeden Aspekt seiner Welt mit Objektivität füllen möchte und nichts dem Zufall oder einer spontanen Eingebung überlässt, ist Firewatch eine Einladung, alles Mögliche subjektiv in Charaktere und Welt zu projizieren. Ein Konzept, das der Game-Designer Sean Vanaman schon in The Walking Dead: The Game erfolgreich zur Schau gestellt hat, selbst wenn sich dort am eigentlichen Handlungsverlauf wenig ändert. Auch die Story von Firewatch, um mysteriöse Vorkommnisse in der Wildnis und die zunehmend intimere Beziehung zweier Brandwachen, basiert allein auf Suggestionen und Einbildung. In Firewatch freuen sich die Spielenden einfach so mit den Fischen, in The Witness werden die Fische seziert, um nach dem Muster für Freude zu suchen.
Der Koch Ding
Die Art und Weise, in der sich Jonathan Blow in und außerhalb von The Witness als daoliberaler Meister inszeniert, ist befremdlich. Aber das Spiel macht durchaus ernst mit seinem Perfektionismus. Als Puzzlegame wächst The Witness mit der Zeit über sich hinaus und belohnt Hartnäckigkeit mit echter Erfolgseuphorie. Handwerklich ist es makellos und schon jetzt ein Klassiker des Genres. Und wenn die Spielenden nicht schon längst durch ihre ständig drohende Unzulänglichkeit vergrault wurden, zeigt das Spiel zumindest in späteren Momenten kritische Selbstreflexion – in versteckten Videos und Audio-Logs auf Metaebene. Echte Meisterschaft beginnt eben erst mit dem Ablassen von Verbissenheit.
Das Ende von The Witness zu erreichen – so viel Spoiler sei erlaubt – ist die einfachste Sache der Welt. Nur können die Spielenden das erst wissen, nachdem sie sich ein Mindestmaß an Meisterschaft erarbeitet haben. Man merkt, Blow möchte gerne wie Ding sein, jener Koch im Zhuangzi, der Ochsen ohne jeden Widerstand mit dem Messer zerteilt. Bescheidenheit ist der entscheidende Unterschied. Der Koch verrichtet seine Arbeit nur so mühelos und perfekt, weil er sie zwar einerseits ausgiebig geübt hat, sie ihm andererseits aber auch gleichgültig ist. The Witness ist alles andere als bescheiden. In seinen überheblichsten Momenten hat es den Charme eines Scientology-Auditings. Wer zu blöd, farbenblind oder taub ist, dem bleibt das höhere Daseins-Level eben verwehrt. „Just don’t suck“, würde Jonathan Blow wohl weise auf Twitter kommentieren.
Mühelos ist ein Adjektiv, das besser zu Firewatch passt. Mühelos wird dort eine bezaubernde Wildnis erschaffen und eine spannende Geschichte erzählt. Mühelos können Spielende das Dasein im Shoshone National Forest erleben. Mühelos entwickelt sich die Empathie für Delilah am anderen Ende des Waldes. Für The Witness ist das alles nichts wert, weil es nicht die Ideallinie durch den Irrgarten des Daseins weist. Es ist ein Gulag für Zen-Mönche in der Leistungsgesellschaft. Die Welt möchte dort nicht nur bezeugt, sondern vor allem auch beackert werden. Für alle, die keine Lust auf den Burnout in Inselkulisse haben, gibt es eine perfekte Alternative. Bei der Arbeit in Firewatch reicht es völlig aus, da zu sein, wenn etwas passiert.