Im November letzten Jahres wurde ich zu einem Game-Design-Workshop der Bundeszentrale für politische Bildung im Rahmen des 9. Festival »Politik im Freien Theater« eingeladen, um einen Vortrag über Freiheit im Computerspiel vor Kindern und Jugendlichen zu halten. Meine Präsentation sowie die Mithilfe an den Game-Prototypen waren ein ganz großer Spaß! Die verschriftlichte Version meines Vortrags gab’s schon damals auf spielbar.de zu lesen. Und jetzt auch endlich hier. Ist natürlich absolut freiwillig, aber wer diese doppelplusgute Chance nicht nutzt, wird █████ und zwar ███!
Freiheitsillusionen: Kontrolle und Überwachung in Computerspielen
von Christian Huberts
Freiheit – das ist wohl einer der Begriffe, die am häufigsten mit Spielen in Verbindung gebracht werden. Nach einem bekannten Zitat von Friedrich Schiller, sind wir nur dort ganz ungezwungen Mensch, wo wir spielen. Aber was so selbstverständlich klingt, wird schnell widersprüchlich. Spiele haben Regeln. Sind wir noch frei, wenn wir verbindlichen Regeln folgen? Spiele haben ein Ziel. Sind wir noch frei, wenn wir ein fremdes Ziel annehmen? Und wo soll überhaupt die Grenze verlaufen zwischen den Zwängen des Alltags und der Freiheit des Spielens? Für den niederländischen Kulturanthropologen Johan Huizinga basiert unsere gesamte Kultur auf spielerischem Handeln. Wir sind der Homo Ludens, der spielende Mensch. Krieg, Rechtswesen und Berufsfußball, überall in unserer Kultur begegnen uns die grundlegenden Elemente von Spielen – Regeln, Rituale, Gewinner, Verlierer, Spiel- und Schlachtfelder. Das gilt auch für die Politik. Machtspiele, Intrigenspiele und „Brot und Spiele“ scheinen die politische Landschaft zu dominieren. Regeln des Zusammenlebens werden erlassen, staatliche Ziele definiert und auch wenn es in einer freien Gesellschaft um Chancengleichheit und Gemeinwohl gehen sollte, verteilt sich der größte Gewinn doch auf Wenige. Und zunehmend weniger Menschen fühlen sich in diesem Spiel frei. Verfolgt man Schillers Zitat vom freien Menschen im Spiel weiter, stellt man fest, dass ihn dieses politische Problem ebenfalls umgetrieben hat. Es herrscht ein paradoxer Zustand zwischen der Freiheit unserer Triebe, die ebenso die Freiheit zum Terror und zur Unterdrückung bedeutet, und der Notwendigkeit der Regulation durch Gesetze, um Terror und Unterdrückung zu verhindern. Weder das eine noch das andere Extrem verspricht Freiheit. Entweder leben wir ungezwungen unter ständiger Angst oder aber wir leben sicher jedoch durch Regeln eingeschränkt. Die einzige Lösung, die nach Friedrich Schiller dauerhaft Freiheit verspricht, ist das Schaffen eines spielerischen Gleichgewichts von Zügellosigkeit und Gesetz. Der „Staatskünstler“, wie Schiller ihn nennt, ist ein Politiker, der dieses Gleichgewicht herstellen und wahren kann. Dass diese Kunst jedoch nicht selbstverständlich ist, zeigt sich an den aktuellen Debatten um Überwachung, staatliche Zensur und Terrorismus. Das politische Spiel scheint weltweit aus der Balance geraten, unsere Freiheit bedroht. Im Laufe der Geschichte des Computers, hat sich diese Entwicklung besonders zugespitzt.
Cold War Games
Computer waren von Beginn an auch Kontroll- und Überwachungsinstrumente. Das heißt, sie wurden zur gezielten Informationsbeschaffung und -abgleichung konstruiert. Ob es sich bei den Informationen um mathematische Berechnungen, maschinelle Messwerte oder persönliche Daten handelt, bleibt für den Computer dabei stets gleichgültig. Während des Zweiten Weltkriegs halfen Lochkarten-Systeme von IBM dem NS-Regime sowohl bei der Logistik von Kriegsmaschinerie als auch von Vernichtungslagern. Die Alliierten nutzten die frühesten Computer wiederum, um den Funkverkehr der Achsenmächte zu entschlüsseln und damit einen entscheidenden Informationsvorteil zu gewinnen. Nach dem Krieg fanden weiterentwickelte Computersysteme unter anderem Anwendung in der Steuerung von Raketen, Satelliten und Verteidigungsanlagen sowie in der Simulation von Krisenszenarien. Während des Kalten Krieges dienten spieltheoretische Programme wie AGILE/COIN den USA zur Vorhersage des „Roten Denkens“ ganzer kommunistischer Nationen. Und aktuell wird Software wie PRISM eingesetzt, um die digitale Kommunikation von Privatpersonen im großen Stil zu überwachen. Aber es sind längst nicht nur Militär und Geheimdienst, die über computerisierte Datenverarbeitung Kontrolle über uns ausüben wollen. Mit Big Data – also der Auswertung riesiger Informationsmengen – bemühen sich Google, Facebook und Co. um die Voraussage und gewinnbringende Manipulation des Nutzerverhaltens, etwa durch das Schalten individualisierter Werbung oder die Einschränkung von Suchergebnissen gemäß unserer bisherigen Interessen. Der umgangssprachliche „Cyberspace“ ist tatsächlich ein gesteuerter Raum – das altgriechische „kybérnesis“ steht für die Steuerkunst von Seefahrern. Wenn wir Computer bedienen, werden wir immer Teil von Regelkreisläufen und Berechnungsprozessen. Das ermöglicht einerseits den freien Zugriff auf so viele Informationen und Kommunikationskanäle wie nie zuvor in der Menschheitsgeschichte, andererseits (miss-)braucht die Software dafür stets auch unsere Daten. Beispielsweise muss sich Facebook die uneingeschränkten Nutzungsrechte unserer Katzenfotos sichern, um sie überhaupt legal an Freunde weiterleiten zu dürfen. Und Google kann uns auch keine relevanten Informationen zukommen lassen, wenn die Nutzer nicht preisgeben wollen, was ihnen wirklich wichtig ist. Jeder Output benötigt zunächst unseren Input. Der Preis des freien Zugriffs auf schier unendliche Datenmengen ist die Abgabe von Souveränität über persönliche Daten. Entscheidend ist – wie bei Schiller –, ob beides im ausgeglichenen Verhältnis steht. So viel wie nötig, so wenig wie möglich. Dass wir unsere Daten dennoch allzu unkritisch hergeben, liegt einerseits an mangelnder Kompetenz im Umgang mit computerisierten Systemen und andererseits an einer geschickten Rhetorik der Software, die uns stets glauben macht, alles drehe sich nur um uns und unsere Freiheit. Nirgendwo wird das deutlicher als in Computerspielen.
Wir sind Stanley
Stanley ist ein einfacher Büroangestellter. Jeden Tag sitzt er vor seinem Computer und drückt jene Tasten nach, die auf dem Bildschirm angezeigt werden. Er macht seinen Job sehr gerne, bis er eines Tages feststellt, dass er ganz alleine im Büro sitzt. Was ist seine Aufgabe? Wo sind die anderen Mitarbeiter? Was hat das alles für einen Sinn? Stanley macht sich auf die Suche nach Antworten. Das ist die Ausgangssituation des Computerspiels The Stanley Parable. Die Spielenden durchstreifen in der Ego-Perspektive ein riesiges Bürogebäude und werden dabei nur von einer freundlichen Erzählstimme begleitet, die unentwegt kommentiert, was Stanley gerade tut. Doch dann erscheint ein Raum mit zwei Türen und der Erzähler behauptet nachdrücklich, dass Stanley durch die linke Tür gehen wird. Doch halten sich die Spielenden auch daran? The Stanley Parable ist eine clevere Reflexion auf Handlungsfreiheit und ein bissiger Kommentar auf die typischen Rhetoriken von Computerspielen. Denn natürlich hört das Spiel nicht einfach auf, wenn die Spielenden die „falsche“ Tür auswählen. Es wird nur schnell klar, dass dieser vermeintliche Regelbruch von Anfang an in dem Spiel angelegt war. So steigert sich The Stanley Parable immer mehr zu einem vergeblichen Kampf gegen die Macht der Erzählstimme, die jeden Versuch der Spielenden, aus den festen Bahnen der Handlung auszubrechen mit neuen absurden Wendungen vereitelt. Stanleys Theorien über seine Welt eskalieren dabei von Überwachungs-Dystopien über paranoide Verschwörungsideologien bis hin zu Jenseitsvorstellungen. Doch es gibt kein Entkommen. Selbst glaubhaft inszenierte Systemabstürze oder ein verzweifelter Suizid führen nur zu genervten Kommentaren des Erzählers und einem erzwungenem Neustart. Die Spielenden sind nicht frei in The Stanley Parable. Die einzige freie Handlung wäre, das Computerspiel vollständig zu beenden. Alt-F4. In den meisten anderen Computerspielen sieht es kaum anders aus. Wir sitzen vor unseren Bildschirmen und drücken die Tasten, die von der Software verlangt werden. Wir sind Stanley. Im Computerspiel gibt es keine Handlungsfreiheit, sondern nur die freie Entscheidung zwischen vorgegeben Handlungsoptionen. Freiheit ist eine Illusion, die entsteht, wenn uns ausreichend Optionen geboten werden. Überwacht und kontrolliert werden wir dennoch. Der französische Philosoph Gilles Deleuze hat dieses Phänomen am Beispiel von Autobahnen auf unseren Alltag übertragen. Denn zwar bringt uns jede neue Autobahn auch neue Entscheidungsmöglichkeiten, aber wo sie hinführen, können wir nicht entscheiden. So kann man das Gefühl haben, frei herumzufahren und wird dennoch gesteuert.
Ihre Papiere, bitte!
Computerspiele beeinflussen also unsere Handlungen dadurch, dass sie uns feste Handlungsoptionen vorgeben, aus denen wir vermeintlich frei auswählen können. Aber sie kontrollieren auch unsere Entscheidungen auf ihre Korrektheit im Sinne des Spielsystems. Weiter im Spiel kommen wir nur, wenn wir „richtig“ handeln. Wem schon mal diese Ähnlichkeit von Computerspielen zu bürokratischen Prozessen übel aufgestoßen ist, muss nicht überrascht sein, wenn auch hier der Computer eine zentrale Rolle spielt. Ihre Fähigkeit, standardisierte Datensätze zu verarbeiten und abzugleichen, prädestinierte sie von Beginn an für den Einsatz in Bürokratien. Auch die meisten Spiele drehen sich um die Überprüfung von regulierten und normierten Aktionen. Es reicht meist nicht, eine Regel nur im Großen und Ganzen einzuhalten, nein, sie muss inhaltlich und formal absolut befolgt werden. Schach gewinnen wir etwa nicht, wenn der gegnerische König so gut wie mattgesetzt ist, sondern nur, wenn er es absolut ist. Und so prüft auch das Computerspiel jede unserer Eingaben auf ihre Richtigkeit und entscheidet anhand rigider Regeln, ob wir damit fortschreiten dürfen oder nicht. Es ist also nur konsequent, wenn ein Spiel wie Papers, Please die Bürokratie in einem diktatorischen Regime thematisiert. Als Grenzbeamter der stolzen Nation Arstotzka gilt es die Dokumente von Einreisenden auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. Ist der Pass noch gültig? Stimmen Passfoto und Geschlecht mit der Realität überein? Und Arstotzka wäre keine richtige Diktatur, wenn nicht immer wieder neue, meist unsinnige Gesetze erlassen werden würden. Ist der separate Transferschein vorhanden? Verläuft der Körperscan ohne Befund? Gehört der Einreisende einer unerwünschten Nationalität an? Das geht so lange gut, wie die Einreisenden reibungslos alle Vorgaben erfüllen. Aber was tun mit der Mutter, die ihren Sohn besuchen will, deren Pass jedoch vor wenigen Tagen abgelaufen ist? Was tun mit den Flüchtlingen, die in ihrer Heimat um ihr Leben fürchten müssen, aber laut Gesetz in Arstotzka nicht gewollt sind? Und was tun mit dem Mörder, der alle nötigen Papiere beisammen hat? Moral ist in der Bürokratie von Papers, Please nicht vorgesehen – und eigentlich auch in keiner realen. Menschlichkeit lässt sich mit standardisierten Daten schlecht abbilden. Natürlich können sich die Spielenden den Regeln widersetzen, nur müssen sie dafür selbst die Konsequenzen tragen. Zu viele Verstöße und die eigene Familie hungert, wird krank, stirbt. Freiheit wird zum schmerzhaften Kompromiss zwischen Moral und befehlstreuem Egoismus. Hält man sich an die Vorgaben, um von einem ungerechten System zu profitieren oder hilft man den Schwächeren, um Stück für Stück selbst einer von ihnen zu werden? Papers, Please gibt keine leichten Antworten. Aber es zeigt Bürokratie als strukturelle Form der Gewalt, die Menschen unterdrückt und das Schlechteste in ihnen zum Vorschein bringt. Das Böse ist ganz banal und stets nur einen blind ausgeführten Maschinenbefehl entfernt. Selbst wenn das Regime schließlich gestürzt wird, weiß man doch nicht, ob die angebliche Freiheit nur ein weiteres Stück Propaganda ist.
Schwarze Balken
Wörter haben Macht. Ohne das Wort „Freiheit“ könnten wir die Idee eines ungezwungenen und selbstbestimmten Daseins nicht so einfach zum Ausdruck bringen, wie wir es zurzeit können. Umgekehrt klingt „Zensur“ nicht so schlimm, wenn wir sie „sprachliche Hygiene“ oder einfach nur █████ nennen. Das sind die Grundprinzipien von Zensur und Propaganda. Was wir nicht bezeichnen können, können wir nicht einfordern oder bekämpfen. Und was gut klingt muss auch gut sein. In George Orwells Dystopie 1984 ist es das Ministerium für Wahrheit, das mit dem so genannten „Neusprech“ für sprachliche Hygiene sorgt. Dazu wird etwa aus „schlecht“ das weniger negative „ungut“ gemacht und „frei“ wird nur noch in Kontexten wie „frei von Unkraut“ benutzt. Wer sich dagegen widersetzt wird „vaporisiert“. Im Computerspiel Blackbar halten wir Briefkontakt mit einer Freundin, die seit Neuestem für ein ganz ähnliches Ministerium arbeitet. Das „Department of Communication“ könnte direkt aus der Feder von Orwell stammen und überwacht den gesamten Kommunikationsverkehr eines unbenannten, dystopischen Regimes. So erreichen uns Briefe in der Regel nur mit dicken schwarzen Balken, die es aus dem Zusammenhang zu rekonstruieren gilt. Mit etwas sprachlicher Kreativität entspinnt sich eine Geschichte um Unterdrückung und Widerstand. Die Zensoren werden mit Doppeldeutigkeiten verhöhnt und die Revolution im Verborgenen mit Geheimsprachen geplant. Das effektivste Wort ist aber ganz einfach: Nein. Blackbar illustriert anschaulich, dass die Freiheit der Sprache zuallererst die Möglichkeit des Wiederspruchs ist. Wer nicht mehr verneinen kann ist nicht mehr frei. In Zukunftsvisionen wie von 1984 gerät man mit solchen „Gedankenverbrechen“ jedoch schnell in den Zuständigkeitsbereich des „Ministeriums für Liebe“. Und das ist leider gar nicht so liebevoll, wie es sich anhört.
Macht aus der Maschine
Auch Hope – die Protagonistin des Computerspiels République – hat es sich mit ihrem Regime verscherzt und soll umerzogen werden. Mit Hilfe der Spielenden gelingt ihr jedoch die Flucht aus ihrer Zelle. Denn diese haben die Kontrolle über die Überwachungstechnologie von République übernommen. Wo Kameras sonst eher Hindernisse für die Spielenden darstellen, sind sie hier ihre Augen. Um Hope einen sicheren Weg durch ihr Gefängnis zu schaffen, lassen sich außerdem elektronische Türen öffnen und schließen, Telefone abhören und offizielle Emails lesen. Dass wir dabei selbst zu Voyeuren werden, scheint nebensächlich. „Ex nihilo nihil fit“ – von Nichts kommt Nichts – wie es in der Propaganda des Regimes heißt. Dabei zeigt République anschaulich, wie sich Überwachungstechnologie missbrauchen lässt. Wenn die Spielenden erstmal Zugangscodes und Wachrouten des Personals ermittelt haben, tanzen diese nach ihrer Pfeife. Und auch Hope ist uns ausgeliefert. Bei WATCH_DOGS verhält es sich ganz ähnlich. Die gesamte Infrastruktur der Stadt Chicago wird durch ein Computersystem gesteuert und lässt sich durch die Spielenden – in Gestalt des Hackers Aiden Pearce – kontrollieren. Ampeln, Straßenbarrieren und Laternen können auf Knopfdruck manipuliert werden. Auf seinem Rachefeldzug gegen die Mörder seiner Nichte hat Aiden ebenfalls Zugriff auf die persönlichen Daten aller Einwohner von Chicago. Neben Informationen zum Essverhalten, Filmvorlieben, Krankheiten und intimen Geheimnissen erhält er auf diese Weise auch Hinweise auf mögliche Verbrechen. So können die Spielenden Straftaten verhindern, bevor diese überhaupt begangen werden. Gedankenverbrechen – moralisch ein sehr dünnes Eis. Denn auch Aiden Pearce schreckt nicht vor Mord und Manipulation zurück. Wer bewacht die Wachmänner? In Zeiten von so genannten Smart Cities und dem Internet der Dinge bietet WATCH_DOGS ein erschreckend plausibles Zukunftsszenario. Schon heute werden Autos und Fußgänger mit komplexen Verkehrsleitsystemen durch Großstädte gelenkt. Und mancher Kühlschrank erkennt selbstständig, wenn er leer ist und bestellt online Nachschub. Die zunehmende Vernetzung erlaubt es immer häufiger, komplexe Netzwerke aus der Entfernung zu steuern und damit Menschen in ihrem Handeln zu manipulieren. So werden bald auch ganze Städte zu Computerspielen, welche Freiheit durch eine gelungene Illusion von Freiheit ersetzen können. Deus Ex: Human Revolution spinnt diese Idee weiter, auf der Ebene unserer Biologie. In der Dystopie des Spiels beginnen Menschen, gesunde Körperteile wie Augen, Arme oder Beine durch leistungsfähigere, elektronische Prothesen auszutauschen. Wie die meiste Software heute schon, bleibt die Bio-Hardware der Zukunft im Besitz ihrer Hersteller und muss mit teuren Medikamenten kompatibel zum menschlichen Körper gehalten werden. Wer im gesellschaftlichen Wettstreit mithalten will, muss bezahlen. Wer nicht mehr bezahlen kann, dem werden die Augen ausgeschaltet, die Arme abgestoßen und die Beine lahmgelegt. Das Computerspiel wird so zu einer Metapher für das Abgeben der eigenen Kontrolle an die Computer. Freiheit heißt jedoch auch, nicht mehr mitspielen zu dürfen, ohne dafür bestraft zu werden.
Spielverderber
Johan Huizinga unterscheidet in seiner Theorie des Spielens den Falschspieler vom Spielverderber. Der Falschspieler verschafft sich Vorteile, indem er die Regeln beugt, Lücken ausnutzt oder heimlich die Spielumstände verändert. Im Computerspiel sind es die Cheater, die falschspielen. In unserer Gesellschaft sind es beispielsweise Steuersünder, Falschparker oder Taschendiebe. Falschspieler sind ärgerlich, aber sie bedrohen nie das Spiel als Ganzes. Die Regeln bleiben intakt, alle anderen können mehr oder weniger ungestört weiterspielen. Darum verzeihen wir – so Huizinga – dem Falschspieler eher als dem Spielverderber. Dieser stellt das ganze Spiel in Frage, zerstört die Illusion der Spieler und macht es unmöglich, so weiterzuspielen wie bisher. Und wer das Spiel verdirbt, darf nicht mit dem Verständnis seiner Mitspieler rechnen. Er müsse vernichtet werden, wie es drastisch bei Johan Huizinga heißt. Wenn man betrachtet, wie kompromisslos mit problematisch gewordenen Personen wie Chelsea Manning oder Edward Snowden umgegangen wird, erscheint diese Formulierung nicht übertrieben. Die beiden Whistleblower haben die Realität sauberer Kriege und der Privatsphäre im Netz nachhaltig in Frage gestellt. In Zeiten geleakter Videodokumentationen mutmaßlicher Kriegsverbrechen westlicher Armeen und einer enttarnten behördlichen Überwachung des Internets, mag sich beim Nachrichtenkonsum und beim Surfen im Internet keine Illusion der Freiheit mehr einstellen. Wie in Papers, Please sind staatliche Repressionen bei allzu freien Handlungen zu befürchten. Und wie in Blackbar ist unklar geworden, wie viel Neusprech und Zensur tatsächlich in den Medien stattfinden. Viele Menschen macht das wütend. Aber ganz egal, wie man zu ihnen steht, die Spielverderber Manning und Snowden haben unsere Aufmerksamkeit für das Ungleichgewicht aktueller politischer Spiele geweckt. Die Staatskunst nach Schiller steht wieder zur Debatte. Wo das Spiel selbst korrupt geworden ist, ist der Spielverderber nicht wirklich ein Spielverderber, sondern im Idealfall jemand, der die Wahrheit offen legt und ein Umdenken möglich macht. Neben dem Spielen wird das Spielverderben möglicherweise eine der wichtigsten Kulturtechniken dieses Jahrhunderts. Die allgemeine Gamification der Gesellschaft braucht eine kritische Gegenkraft, um nicht zur bloßen Illusion von spielerischer Freiheit zu werden. Bei Computerspielen hat sich längst eine Tradition des sozialkritischen Game-Designs entwickelt. Dabei versuchen Spielentwickler mit Hilfe unbequemer und paradoxer Spielmechaniken ein Bewusstsein für die Macht von Spielregeln zu wecken. The Stanley Parable ist so ein kritisches Computerspiel. Um dem Gefängnis des Spiels zu entkommen, muss Stanley das Spiel beenden. Und um in der Gesellschaft einen möglichst großen Spielraum für alle zu schaffen, müssen die gesellschaftlichen Spielregeln stets aufs Neue hinterfragt werden. Denn wirklich frei ist der Mensch nur dort, wo er nicht nach den Regeln, sondern mit den Regeln spielt.
Literatur
- Gilles Deleuze: „Schizophrenie & Gesellschaft – Texte und Gespräche von 1975 bis 1995“. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2005.
- Mary Flanagan: „Critical Play – Radical Game Design”. MIT Press, Cambridge 2009.
- Johan Huizinga: „Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel“. Rowohlt, Reinbek 2004.
- Claus Pias: „Computer Spiel Welten“. Sequenzia Verlag, München 2002.
- Friedrich Schiller: „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“. Reclam, Stuttgart 2000.