Eben erst habe ich diesen schönen Text zu Peggle Deluxe wiederentdeckt, der in der Übung »Nah und fern Computerspiele beschreiben« bei Heiko Gogolin – ehemaliger Chefredakteur der GEE – im WS 2007/2008 an der Uni Hildesheim entstanden ist:
Vollkommen konzentriert, wie bei einer Partie Minigolf, gehe ich das imaginäre Kugelballett Schritt für Schritt im Geist durch. Einfallswinkel gleich Ausfallswinkel! Eigentlich müsste es so zu schaffen sein… Plopp! Und dann hüpft mein Ball, wie vom Chaos gestochen ins Nichts. Ich habe es einfach nicht drauf! Zerknirscht feuere ich die letzte meiner Kugeln in ihr vermeintliches Verderben. Doch da springt sie zielsicher von Peg zu Peg, prallt von der Wand wieder ab, fliegt haarscharf an allen Hindernissen vorbei, um schließlich… Trommelwirbel… … … EXTREME FEVER: »Freude, schöner Götterfunken / Tochter aus Elysium / Wir betreten feuertrunken / Himmlische, dein Heiligthum« … ich muss ein Genie sein! Welch perfekte Flugbahn! Das Werk eines wahren Peggle-Meisters! Oder einfach nur mehr Glück als Verstand?
Sehen wir es doch mal so: Seit knapp 20 Jahren spiele ich Computerspiele. Und seit knapp 20 Jahren wurde mir von Super Mario & Co. ein ziemlich eindeutiger Arbeitsethos eingebläut. Wenn ich mich nur recht bemühe, fleißig alle Tastenkombinationen auswendig lerne und nie aufgebe, würde mir alles Glück der virtuellen Welt zuteil werden. Und das hat all die Jahr auch vorbildlich funktioniert. Böse Königreiche fielen, Prinzessinnen wurden gerettet, stereotype Schurken bissen ins Gras und mein Ego wuchs und wuchs. »Ja, du hast es voll drauf!« schrie es mir aus jeder Zeile des Bildschirms entgegen… und dann kam Peggle Deluxe! Tja, und jetzt ist mein Ego, um es mal vorsichtig auszudrücken, etwas verunsichert. Dabei ist doch eigentlich alles in Ordnung. Ich reflektiere meine Spielzüge. Ich entwickele Strategien. Ich habe Erfolg! Aber manchmal driften die Kontinentalplatten von ›Können‹ und ›Erfolg‹ einfach zu weit auseinander, um noch ruhig schlafen zu können. Dann denke ich nicht groß nach, schieße meine Kugel nur so drauf los und hoppla, Beethoven krault mir die Eier. Mein Ego nimmt derweil ein kaltes Bad im Ozean der Bedeutungslosigkeit.
Es ist schon keine leichte Erfahrung in die man durch Peggle Deluxe gestoßen wird. Zumindest wenn man gewohnt ist, für Erfolge hart zu arbeiten. Plötzlich fühle ich mich wie bei einer glücklichen Partie Poker. Mit dem Royal Flush in der Hand glaubt einem niemand mehr, dass man das irgendwie geplant hatte. Dasselbe, wenn ich in Gran Turismo mit meinem getunten Ford GT gegen eine VW Käfer-Konkurrenz gewinne. Und zwar ohne zu lenken! König ›Können‹ ist tot, es lebe König ›Glück‹! Natürlich beginnt mein Ego sofort zu protestieren, dass Zufall im Computerspiel gar nichts zu suchen hat. Es sei denn, es handelt sich um Zufalls-Algorithmen, die ja nicht wirklich zufällig sind. Aber, Anarchie? Pah! Ja, ganz sicher, Kontrolle und Beherrschung sind die einzig wahren Wege des Computerspiel-Meisters. Punkt! Und während mein Ego noch weiter so vor sich hin babbelt (»Und mit so etwas verdienen die auch noch Geld! Unverschämt!«), ist mein eifriger Zeigefinger damit beschäftigt, eine Kugel nach der Anderen in den Malstrom der Pegs zu entlassen. Mein Gesicht trägt das selbstvergessene und zufriedene Lächeln eines Lamas.
Es lässt sich nicht leugnen: Peggle Deluxe macht Spass. Gefährlich viel Spass! Die Art von Spass, die tagtäglich Millionen Menschen ihr Münzgeld in Automaten stecken lässt. Die Art, für die ich wichtige Mahlzeiten zu Gunsten von Spielzeit opfere. Das Prinzip ist so einfach, aber die Wirkung so groß. Das Ballett des Zufalls verscheucht jeden Willen nach Kontrolle. Ja, es verscheucht überhaupt jeden klaren Gedanken aus meinem Kopf. Wer hätte gedacht, dass es so vereinnahmend sein kann, einer Kugel dabei zuzusehen, wie sie ihren Weg nach unten sucht. Peggle Deluxe ist die Software-gewordene Verantwortungslosigkeit. Was mein Unterbewusstsein schon begriffen hat, tropft langsam auch zum Ego durch. Eigentlich ist es doch das, was jeder sich wünscht: nichts mehr tun müssen und trotzdem glücklich sein. Aufgehen im bloßen Dasein. Statt dass ich vom Schicksal hin- und hergerissen werde, trägt nun die Kugel dieses Joch. Sie prallt nach Links ab oder nach Rechts, im scharfen Winkel oder im flachen Winkel, aber ich bleibe vor dem Computer sitzen und spiele Peggle Deluxe. Der Vielfalt möglicher Spielausgänge steht nur noch ein mögliches Ich gegenüber. Und nach Jahren der Askese wird ein Schüler zu diesem Ich treten und fragen: »Meister, was ist die wahre Bhudda-Natur?« Und ich werde Antworten: »Hast du heute schon Peggle Deluxe gespielt?«